Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
kämpfen um Anerkennung und darum, gesehen zu werden. So ziehen sie eine Maske auf, nehmen eine Rolle ein und zeigen vermeintliche Stärke, sind in Wahrheit jedoch tief getroffen und verunsichert. (Auch Erwachsene reagieren im Übrigen in dieser Weise – nur sind Erwachsene das »Rollenspiel« gewohnt und verstecken ihre Gefühle viel geübter.)
Wenn ein Kind mit Rückzug reagiert, fällt uns das oft gar nicht auf, denn es stört ja nicht mehr. Die aggressive Reaktion des Kindes jedoch kann die Problematik insgesamt noch verschärfen. So kann es sein, dass sich das auffällige Verhalten eines Kindes – trotz Sanktionen, die man ihm auferlegt – noch verstärkt. Das wirkt dann häufig auf Erwachsene so, als mache die Bestrafung dem Kind »nichts aus«.
Nun, tatsächlich zeigen solche Maßnahmen bei Kindern wie Oskar nicht die erhoffte Wirkung. Denn das gewünschte Ziel, die Verhaltensänderung, erfolgt nicht. Sie kann nicht erfolgen.
Oskar hat nämlich durch all diese Maßnahmen – zumal kein konstruktiver Dialog mit ihm stattfindet – zwischen den Zeilen folgende Botschaften erhalten:
Die Erwachsenen (hier die Lehrer) haben die Macht. Wenn sie Entscheidungen treffen, dann zählt meine Meinung nicht, Erklärungen (auch, wenn sie noch so logisch sind) haben keinen Bestand in dieser Beziehung. Ich habe keinen Platz in dieser Beziehung. Vertrauen kann ich hier nicht haben.
Ich werde hier mit meinen Bedürfnissen nicht wahrgenommen!
Es setzt sich nun ein fataler Kreislauf in Bewegung: Oskar begreift, dass er seine Sache in der Schule nicht gut macht. Sein Kampf, dazuzugehören und Anerkennung zu erlangen, ist anstrengend und zermürbend. Zusätzlich wird er durch Sanktionen immer weiter verletzt. Er bemüht sich dennoch immer wieder (offensichtlich auch ohne elterliche Unterstützung), allem gerecht zu werden. Sein Bemühen aber wird gar nicht gesehen. So bleibt er angesichts der (nicht zu erfüllenden) hohen (und auch falschen) Erwartungen der Umwelt letztendlich allein und überfordert zurück. Es entsteht ein inneres Ungleichgewicht. Das alles frustriert ihn zunehmend und setzt ihn unter Dauerstress.
Weil die Lehrerin das Bemühen von Oskar nicht erkennt, unterstellt sie, er könne doch, wenn er nur wolle! Allerdings: Mit jedem ungeduldigen Wort der Lehrerin, mit jedem Nachsitzen am Mittag, mit jeder schlechten Benotung seiner Leistung wird die innere Verletzung größer. Das alles wird von Oskar als persönliche Abwertung wahrgenommen. Diese Wahrnehmung beeinträchtigt sein kindliches Selbstbild, und es sammeln sich Ärger, Wut und Kränkungen in seinem Inneren wie Wassertropfen in einer Regentonne.
Der Druck, dem Oskar standhalten muss, wird immer stärker. Seine Frustration erhöht sich, während sein Selbstwertgefühl deutlich abnimmt. Oskar versteht, dass er versagt – und zwar jeden Tag in vielen kleinen und großen Dingen. Er erlebt die Sanktionen als Grenzüberschreitungen ihm gegenüber und spiegelt diese schließlich zurück, in dem er seine Frustrationen (zum Beispiel an den Schulkameraden) ausagiert.
Er ist auf der Suche nach Beziehung und Dialog, die immer wieder misslingen. Verzweifelt ringt er um Kontakte und Bestätigung in der (Schüler-)Gruppe. Wegen seiner Unsicherheit und der schlechten sozialen Stellung in der Klasse aber scheitert diese Kontaktaufnahme häufig. Er wird wütend, ist enttäuscht und verletzt. Enttäuscht von sich und verletzt durch die anderen, die ihn nun – auch das ist nachvollziehbar – ausgrenzen.
Jedem von uns würde es in dieser oder einer ähnlichen Situation gehen wie Oskar – und das aus physiologischen Gründen.
Mittlerweile kann die Hirnforschung nachweisen, dass bei negativen Gefühlen (wie etwa beim Ausschluss aus einer Gruppe) die gleichen Hirnregionen aktiviert werden wie bei körperlichem Schmerz, was darauf hindeutet, dass psychischer Schmerz hirnorganisch gesehen den gleichen Spannungszustand auslöst wie ein rein körperlicher.
Nur weil psychische Belastung nicht sofort, wie eine körperliche Beeinträchtigung, von außen sichtbar ist, heißt das nicht, dass sie nicht auch qualvoll sein und Schmerz verursachen kann, wie zum Beispiel ein gebrochener Knochen oder auch Schläge. Wie schnell jedoch geht es, dass wir jemanden ausschließen, ohne dass wir uns darum Gedanken machen, wie der andere sich fühlen wird. Und wie schwer ist es dann für den Betreffenden, wieder in eine Gruppe hineinzukommen und Anerkennung und Wertschätzung zu
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