Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
erlangen. Für Oskar scheint die Situation in der Schule ausweglos zu sein, denn er genießt kaum noch Anerkennung bei seinen Mitschülern und wird aus allen Bereichen zunehmend ausgeschlossen. Die Schule als Lebensbereich nimmt einen großen Platz im Alltag unserer Kinder ein. Wenn an dieser Stelle permanenter Druck und anhaltende Spannung entstehen, kann es zu dramatischen Folgen kommen. Die Spannungszustände sind auf Dauer nicht zu kompensieren, und Oskar wird zunehmend aggressiv; ein eigentlich wichtiges Gefühl und gleichzeitig auch ein bedeutendes Signal – Ausdruck seiner Not und seines Schmerzes.
In der Schule besteht auch wenig Möglichkeit, den Ursachen eines derartigen Verhaltens auf den Grund zu gehen. Alle reden über Oskar, kaum einer mit ihm. In der Schule – wie überhaupt in unserer Gesellschaft – ist es nicht vorgesehen, auf der Beziehungsebene zu agieren, sich den Bedürfnissen von Kindern zuzuwenden, um in Ruhe einen persönlichen, konstruktiven Dialog zu führen. Es geht vor allem um Leistung und Anpassung. Das Bedürfnis des Einzelnen wird nicht erkannt oder übergangen; und so wird Oskar bestraft, und er bleibt allein.
Auf diese Weise wird der verhängnisvolle Kreislauf immerzu in Gang gehalten: Kind versagt – Sanktion durch Schule – löst Frustration beim Kind aus – führt wieder zum Versagen – und löst damit Aggressionen aus – es folgt wieder die Strafe. Aus dieser Dynamik kann sich kein Kind allein befreien.
Häufig unterstellen wir Kindern wie Oskar, dass sie unwillig seien und nicht lernen wollten. Dabei wollen Kinder grundsätzlich lernen.
Lernen als Grundbedürfnis
Der Mensch ist von Natur aus ein Entdecker und Forscher. Kinder kommen mit großer Neugierde und einer schier unaufhaltsamen Entdeckerfreude ausgestattet auf die Welt. Diese Eigenschaften sind uns Menschen angeboren. Wir können gar nicht existieren, ohne zu lernen. Lernen ist ein menschliches Grundbedürfnis. Es passiert ganz selbstverständlich. Während der Mensch existiert, lernt er immerzu, bewusst und unbewusst – vielleicht nicht immer gerade das, was er soll, Kinder also nicht das, was wir Erwachsenen uns vorstellen. Aber wir lernen unaufhörlich und permanent. Es ist ein absolut natürlicher Vorgang wie das Atmen. Das Ein- und Ausatmen passiert automatisch, wir denken in der Regel nicht darüber nach. So ist es auch mit dem Lernen. Die Wissenschaft ist sich hier einig: Kinder wollen lernen – sie können gar nicht anders.
Umso erstaunlicher ist es, wie wir damit umgehen, wenn Kinder in der Schule auf einmal nicht (mehr) lernen. »Warum kannst du nicht lernen?« Das ist die Frage, die wir in diesem Zusammenhang nicht stellen. Stattdessen fordern wir Kinder auf zu lernen, versuchen sie zu motivieren, unterstellen ihnen, dass es doch hinkriegen könnten, wenn sie sich nur entsprechend bemühten. Um beim Bild vom Atmen zu bleiben: Fiele jemandem das Atmen schwer, so würden wir doch von einer Atemwegserkrankung ausgehen und nach der Ursache forschen. Ist es eine Allergie oder eine Entzündung, die das Symptom verursacht? Keiner würde sagen: »Komm, Oskar, atme! Mach schon! Und wenn es dir nicht gelingt, dann musst du nachsitzen. So lange, bis du endlich wieder vernünftig atmest.«
Übernehmen wir diese Verantwortung für das Gelingen von Dialog und Kommunikation nicht, steht am Ende der besprochenen negativen Dynamik ein gebrochenes Kind, ein »Lerninvalide«. Es ist dauerhaft seelisch verwundet. Das Kind verbindet schulisches Lernen und Leistung mit Abwertung und Demütigungen.
Wie Hohn und Spott klingt es dann für diese gebrochenen Schüler, wenn ihnen die angeblich alte Weisheit Non scholae, sed vitae discimus – also nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir – entgegengehalten wird, um ihnen das Aushalten in der für sie krankmachenden Institution schmackhaft zu machen. Dabei besagte das Originalzitat genau das Gegenteil; Seneca hatte damit sarkastisch die Lebensferne der antiken römischen Philosophieschulen kritisiert: Non vitae, sed scholae discimus – nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir. Diesen auf die Schule gerichteten Pfeil des großen Philosophen gegen die Schüler zu wenden ist schon infam, aber bezeichnend für eine offenbar jahrhundertealte Kritikrenitenz.
Symptombehandlung im Kontext von Familie
Wenden wir uns nun nach der Schule der Familie zu. Auch hier gilt es, zu einer neuen Haltung zu kommen, indem wir die Reaktionen und Rückmeldungen
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