Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
kann ein Erziehungsstil, ob er nun autoritativ oder demokratisch genannt wird, noch so modern sein – immer dasselbe: Wir sehen ein Symptom und wollen es abstellen.
Luise
Eine Mutter kommt zur Beratung und berichtet von den Einschlafproblemen ihrer neun Monate alten Tochter. Sie habe in den vergangenen Monaten schon alles probiert und sei am Ende ihrer Kräfte. Dabei habe sie sich genau an die Anweisungen gehalten, die sie erhalten habe, und einen Plan aufgestellt, in welchem Rhythmus und in welchen Zeitabständen sie ins Zimmer ihrer Tochter zu gehen habe. Es falle ihr schwer, den Plan einzuhalten. Sie könne Luise nicht weinen hören und habe dann immer wieder den Impuls, hineinzugehen und sie zu beruhigen.
Luises Mutter befolgt also Handlungsanweisungen und unterdrückt aus Unsicherheit ihre eigenen Impulse, die eigentlich ganz wichtige Navigationshilfen darstellen. Sie vertraut sich selbst, ihrer Beobachtungsgabe und ihrem Einfühlungsvermögen, nicht (mehr), übergeht ihre mütterliche Intuition und verliert damit Handlungsalternativen, die ihr sonst zur Verfügung stünden. Sie verliert auf diese Weise ihr ureigenes (gutes) Gefühl und lässt einen Ratgeber bzw. eine Methode über ihren Umgang mit ihrer Tochter entscheiden.
Auch ziehe Luise sich hoch und stehe dann immer wieder im Bettchen, weine laut und strecke ihr die Arme entgegen. Sie habe dann eine andere Methode empfohlen bekommen und angewendet, die »Tür-auf-Tür-zu-Methode«. In dem Ratgeber sei eine Art Spielregel beschrieben worden: Sie als Mutter solle die Tür immer sofort wieder schließen, sobald das Kind aus dem Bettchen aufstehe. Dies solle sie so lange tun, bis das Kind schließlich liegen bleibe und eingeschlafen sei. Auch hier habe sie große »Bauchschmerzen« gehabt, die Methode anzuwenden. Luise habe furchtbar geweint und Angst gehabt.
Es geht nicht darum, diese verhaltenspädagogische Methode zu bewerten. Es geht darum zu erkennen, was passiert, wenn wir uns in Bezug auf unsere Kinder von Methoden leiten lassen und Verantwortung abgeben. Der durch eine Erziehungsmethode geführte Mensch muss unter Umständen gar nicht mehr selbst überlegen. Dabei sind schon Neugeborene aktive Teilnehmer von Interaktionen und auf der Suche nach Kommunikation.
Frühe Mutter-Kind-Interaktion
Ein Säugling, das hat die Forschung der letzten dreißig Jahre ergeben, hat bereits viele Fähigkeiten. So kann er seine Hauptbezugssperson von anderen Menschen unterscheiden und mit ihr ganz besonders kommunizieren. Unmittelbar nach der Geburt kann das Neugeborene bereits die Stimme seiner Mutter von anderen Stimmen unterscheiden und schon sehr früh verschiedene Sinneseindrücke koordinieren. Es kann somit ein einheitliches Bild der Mutter erlangen, indem es eine Verbindung zwischen ihrer Stimme und ihrem Gesicht herstellt. Aber nicht nur die Wahrnehmungs-, sondern auch die Gefühlswelt eines Säuglings ist komplex. Die sogenannten Primäraffekte, die in allen Kulturen der Welt einheitlich angeboren sind und nicht gelernt werden müssen, können Säuglinge bereits mimisch zum Ausdruck bringen und dienen somit der Kommunikation mit ihren Bindungspersonen.
Interesse, Überraschung, Ekel, Freude, Ärger, Traurigkeit und Furcht sind die Empfindungen, die die Mutter im Gesicht ihres Kindes erkennen kann und die es ihr ermöglichen, feinfühlig auf dessen Vorlieben, Abneigungen und Grenzen zu reagieren. Feinfühligkeit meint, dass die Signale des Kindes von der Bezugsperson wahrgenommen und im Sinne des Kindes interpretiert und angemessen befriedigt werden. Die wechselseitige Kommunikation zwischen den Bezugspersonen und dem Säugling ist maßgeblich, denn sie hilft dem Kind, die eigenen Affekte zu regulieren. Durch verschiedene Faktoren (zum Beispiel bei Kindern, die viel schreien und sich nur schlecht beruhigen lassen) kann es dazu kommen, dass diese frühe Interaktion (Affektregulierung) zwischen Mutter (Eltern) und Kind gestört wird. So geraten Eltern manchmal in eine Hilflosigkeit, die dazu führt, dass sie zeitweise nicht auf ihre eigene Intuition zurückgreifen können. Durch die dauerhafte Belastung und emotionale Überforderung kann dann in diesem Erschöpfungszustand ein Zusammenspiel von Frustration, Angst, Wut und Ohnmacht den Leidensdruck der Eltern noch erhöhen. Eine physische und psychische Entlastung der Mutter/des Vaters durch eine weitere dritte Person kann die gestörte Interaktion entlasten und zum Gelingen der Kommunikation zwischen
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