Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Geschichte der Entstehung der Kindheit wirft – die gleichzeitig auch die Geschichte der Erziehung ist.
Schaut man sich an, was die Menschen in den zurückliegenden Jahrzehnten und Jahrhunderten unter Kindheit verstanden haben, dann wird schnell klar: Kindheit ist nichts, was man biologisch fassen könnte, was genetisch oder anthropologisch zu definieren wäre. Kindheit ist ein Konstrukt, das von den jeweiligen sozialen und kulturellen Vorstellungen einer Zeit geprägt ist. Das zu begreifen macht es einfacher, auch ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass wir die Art und Weise, mit unseren Kindern umzugehen, ändern können, wenn wir unsere Vorstellungen von Kindheit verändern.
Bis ins Mittelalter hinein war der Umgang mit Kindern von heute aus gesehen erschreckend wenig emotional. Sprach man von einem Kind, dann war damit meist nicht mehr als ein Verwandtschaftsverhältnis bezeichnet. Kindsmorde etwa waren ein gesellschaftlich akzeptiertes Phänomen. Unerwünschte Kinder wurden erschlagen, ertränkt oder eingesperrt, bis sie verhungerten oder erstickten.
Die Kindersterblichkeit war hoch, doch der Tod eines Kindes war für die Eltern aufgrund der fehlenden emotionalen Beziehung leichter zu verkraften. Man ging davon aus, dass Kinder weder Persönlichkeit noch Individualität besitzen, sodass ein Kind einfach durch ein anderes ersetzt werden konnte.
Schließlich ging man im Mittelalter dazu über, unerwünschte Kinder nicht mehr zu töten, sondern wegzugeben, in Klöster oder andere Einrichtungen. In reichen Familien waren es stets die Bediensteten, die die Kinder versorgten. Bemerkenswert auch, dass Kinder auf ganz natürliche Weise am Leben der Erwachsenen teilnahmen. Sie trugen die gleiche Kleidung, aßen das Gleiche. Den Gedanken, dass Kinder anders behandelt werden müssen als Erwachsene, kannte man nicht.
Mit Beginn der Neuzeit wandelte sich der Blick auf Kinder grundlegend, so wie grundsätzlich in dieser Zeit dem Individuum mit seiner Gefühlswelt mehr Achtung zuteilwurde. Die hohe Kindersterblichkeit wurde nicht mehr als eine unvermeidbare Laune der Natur hingenommen. Man begann, um verlorene Kinder zu trauern – man nahm sie nun also als Individuen wahr, die einzigartig waren und eine einzigartige Persönlichkeit hatten. Genauso begann man in dieser Zeit, Vergnügen am Spiel mit den Kindern und an ihrem Wesen zu entwickeln. Kurz: Man begann sich für die Kindheit zu interessieren. Noch immer aber war das Verhältnis zu Kindern nicht von familiärer Bindung und Emotion geprägt, wie wir sie heute kennen.
Dass man sich dem Kind und seinen Besonderheiten zuwandte, ging unmittelbar einher mit dem Wunsch, dass dieses sich nach den Regeln der Erwachsenen verhielt. So beschäftigte man sich zunehmend damit, was ein Kind ist und wie es durch die gezielte Einwirkung von Erwachsenen »erzogen« – und damit zu einem »vollwertigen Menschen« gemacht – werden kann. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass mit dem Beginn der Neuzeit das Genre der Erziehungsratgeber entstand. Den ersten Beststeller auf diesem Feld schrieb Erasmus von Rotterdam. »De civilitate morum puerilium« heißt sein Benimmbuch, das 1530 zum ersten Mal erschien und allein bis zu seinem Tod dreißigmal neu aufgelegt wurde. Dieser Text ist deshalb so aufschlussreich, weil er viele Aspekte enthält, die in unserer heutigen Vorstellung von Kindern immer noch Gültigkeit haben. Wenn Erasmus in seinem Buch von Zivilisation spricht, dann meint er vor allem ein dichtes Netz an Vorschriften, Verhaltens- und Benimmregeln. Erst wer diese lernte, war kultiviert und also auch ein richtiger Mensch.
Die Entwicklung vom Mittelalter bis zur Neuzeit kann man unter zwei verschiedenen Perspektiven betrachten. Folgt man dem amerikanischen Psychologen Lloyd deMause, dann ist die Geschichte der Kindheit als ein langsames Erwachen aus einem Albtraum zu lesen. Als eine Geschichte also, in der das Kind nach und nach von den Grausamkeiten und Misshandlungen befreit wird, die ihm einst angetan wurden.
Etwas ganz anderes erzählt der französische Historiker Philippe Ariès, der mit seinem Buch »Geschichte der Kindheit« aus dem Jahr 1962 ganz entscheidend dazu beigetragen hat, dass sich immer mehr Wissenschaftler überhaupt mit Fragen der Kindheit beschäftigten. Im Gegensatz zu deMause versteht Ariès die Geschichte der Kindheit als einen schleichenden Prozess der Domestizierung und der Isolation der Kinder von der Welt der Erwachsenen.
Ariès weist auf etwas
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