Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Entscheidendes hin: Die Entdeckung der Kindheit geht einher mit der Idee der Erziehung. Die Kindheit wurde nicht nur entdeckt, sie wurde auch als Vorstellung, als Konstrukt entworfen. Und diese Vorstellung besagte, dass Kinder erzogen und geformt werden müssen, um zu gesellschaftsfähigen Erwachsenen zu werden.
Der englische Philosoph John Locke hat mit seiner Schrift »Some Thoughts Concerning Education« aus dem Jahr 1693 ein weiteres Bild geprägt. Bei seiner Geburt, so Locke, sei der Mensch eine »tabula rasa«, eine leere Schreibtafel. Diese Tafel kann und muss durch Erziehung beschrieben werden. Heute würde man sagen: Der leere Speicher muss mit Dateien und Programmen gefüllt werden. Dahinter steckt auch der Gedanke, dass die Erwachsenen auf diese Weise zu Schöpfern werden und als Eltern die Macht besitzen, Kinder nach ihren Vorstellungen zu formen und die Mittel für ein möglichst »optimales Resultat« ihrer Mühen immer mehr zu verbessern.
Bekannter noch als Lockes Gedanken sind die Überlegungen, mit denen Jean-Jacques Rousseau zum Begründer der modernen Erziehung geworden ist. Rousseau war der Überzeugung: »Was uns bei der Geburt fehlt und was wir als Erwachsene brauchen, das gibt uns die Erziehung.« Der vollkommene Mensch ist machbar, war die Devise. Auch wenn sich Zeiten gewandelt haben, ist das Prinzip der Erziehung immer dasselbe geblieben: Kinder sind eine Art Rohmaterial, das genutzt und von Erwachsenen geformt werden muss, um leistungs- und konkurrenzfähig zu werden.
Erziehungsstile
Erziehungsvorstellungen verändern sich im Wandel der Zeit. Heute stehen verschiedene Ansätze nebeneinander: Die Varianten der Erziehungsstile reichen vom streng autoritären bis hin zum demokratischen Umgang miteinander, zwischen diesen beiden Polen gibt es zahlreiche Abstufungen.
Die Regale der Buchhandlungen haben sich zunehmend gefüllt mit Erziehungsratgebern, die für jede Situation einen, wenn nicht gar den ultimativen Tipp bereithalten. Ratgeber wollen Eltern dabei unterstützen, ihre Kinder »richtig« zu erziehen. Aus meiner Sicht eine nicht unproblematische Entwicklung. Denn Ratgeber müssen Individualität und Eigenheiten von Kindern, Hintergründe und Ursachen eines bestimmten Verhaltens unbeachtet lassen. Oft wird verallgemeinert, oberflächlich kategorisiert und symptomorientiert argumentiert und beraten. Schmeißt sich ein Kind auf den Boden und beginnt laut zu schreien, so ist die Frage der Erwachsenen: Was soll ich jetzt tun? Was kann ich machen, damit das aufhört? Die Ratgeber halten eine Unmenge an Tipps und Tricks bereit, wie man mit einem unwilligen oder lauten Kind am besten umgeht. Auch wenn beständig in Verallgemeinerungen gedacht wird, einig sind sich die Ratgeber absolut nicht; von »Ignorieren Sie Ihr Kind!« bis »Kümmern Sie sich intensiv!« ist alles dabei.
Dass wir nach schnellen Lösungen suchen, liegt daran, dass solche und ähnliche Momente oft anstrengend für uns sind. Auch entstehen durch das Verhalten von Kindern immer wieder Situationen, die Eltern peinlich sind. Wem ist es nicht unangenehm, wenn sein Kind schreiend am Boden liegt? Man möchte am liebsten selbst darin versinken.
Wenn Eltern von den Ratgeberautoren aufgefordert werden, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, dann wird damit suggeriert:
Es gebe im Umgang mit Kindern ein »Richtig« und »Falsch«.
Es gebe für jede Situation eine bestimmte – also die einzig richtige – Lösung.
Eltern müssten nur konsequent sein und sich bei ihren Kindern durchsetzen.
Für den Umgang mit Kindern gebe es absolut sichere Tipps und Tricks, und die Beziehung zwischen Eltern und Kind sei über verschiedene Verhaltensvarianten steuer- und regelbar.
Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist aus Ratgebersicht eher funktional und unpersönlich. Nähe und Vertrauen spielen keine große Rolle, es geht in erster Linie nicht um die Bedürfnisse des Kindes, sondern darum, was Eltern als Notwendigkeit ansehen.
Auch wenn in neueren Erziehungsansätzen Wert darauf gelegt wird, auch auf das Kind mit seinen Bedürfnissen und Eigenarten einzugehen, hat sich doch grundsätzlich nichts geändert: Nach wie vor wird Erziehung als Eingreifen der Erwachsenen in die Entwicklung von Kindern gedacht und definiert.
Das folgende Zitat bringt auf den Punkt, wovon wir reden, wenn wir von Erziehung reden:
»Erziehung ist die soziale Interaktion zwischen Menschen, bei der ein Erwachsener planvoll und zielgerichtet versucht,
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