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Du bist zu schnell

Titel: Du bist zu schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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erzählte ihm ein wenig aus meiner Kindheit und malte die Geschichten düster und schwarz aus. Dann erzählte ich von einer langjährigen Therapie in Oldenburg, von den zu schwachen Medikamenten und dem Schmerz in meiner Zunge, der nur oberflächlich gelindert wurde.
    Von da an ging es so leicht, daß es hätte verboten sein müssen.
    Was mir der Arzt beim ersten Mal verschrieb, war ein Mittel, das mich richtiggehend ausschaltete. Die Träume und die Angst verschwanden. Ich lebte hinter Filtern und brauchte für alles etwas länger - etwas mehr Schlaf, etwas mehr Worte, etwas mehr Zeit. Es war genau die Wirkung, die ich mir erhofft hatte. Ich wollte lieber mehr Filter, als zu wenig.
    Dann setzte die Gewöhnung ein.
    Nach drei Monaten hatte ich das Gefühl, daß sich mein Körper dem Medikament angepaßt hatte. Ich wurde unsicher, etwas Stärkeres mußte her. Also ging ich wieder zum Arzt, wo ich die tragische Nummer wiederholte und endlich — wie es mir Henna prophezeit hatte — zum Versuchskaninchen auserkoren wurde. Der Arzt zeigte sich zunächst von der ratlosen Seite, dann überreichte er mir ein Medikament, das sich im Testverfahren befand.
    -    Ich mache das inoffiziell, erklärte er mir, Aber bei Ihrem Problem, denke ich, sollten wir diesen Versuch wagen.
    Er zeigte auf die Verpackung.
    —    Hierbei handelt es sich um ein neues Anti-Epileptikum, das sich im Testzustand befindet. Es wirkt stärker beruhigend als die Antidepressiva, die Sie bisher ausprobiert haben. Bei Patientinnen mit Glossodynie muß man beinahe das Risiko eingehen, klinisch noch nicht erprobte Medikamente zu verschreiben. Deswegen werde ich bei Ihnen eine Ausnahme machen.
    Mir war klar, daß er seine Praxis mit solchen Experimenten finanzierte, und ich hatte nichts dagegen. Ich half ihm, er half mir.
    — Und achten Sie bitte auf die Nebenwirkungen, gab er mir mit auf den Weg.
    Die Anti-Epileptika waren genau das, was mir gefehlt hatte. In einem monatlichen Rhythmus berichtete ich dem Arzt, was ich für Erfahrungen mit dem vorherigen Medikament gemacht hatte. Er schrieb eifrig mit und schickte mich mit einer neuen Probepackung nach Hause. Bei einigen reagierte ich allergisch, bei anderen war es Übelkeit und ein taubes Gefühl in Händen und Füßen. Was aber auch geschah, pünktlich am 10. stand ich in der Praxis, um mir das neueste Produkt abzuholen.
    Die Nebenwirkungen machten mich träge und erschöpft, manchmal heulte ich grundlos vor mich hin, und manchmal konnte ich mich über den letzten Blödsinn totlachen. Ich bekam ein wenig Haarausfall, unangenehme Schweißausbrüche und hatte das witzige Gefühl, Strom würde durch meine Zähne fließen. Ab und zu verlor ich mein Empfinden für die Zeit, setzte mich aufs Bett und stand im nächsten Moment im Badezimmer, ohne zu wissen, wie ich dahin gekommen war. Zum Glück gab es diese Aussetzer nur bei mir zu Hause. Damit konnte ich leben. Ich konnte mit so vielem leben. Nebenwirkungen hin oder her, ich behielt die Panik im Griff und fühlte mich sicher, mehr zählte nicht.

7

    Über vier Jahre waren seit der Szene in der U-Bahn vergangen, und ich hatte die Psychose gebannt. Mit dem Gefühl der Sicherheit kehrte mein Interesse an Männern wieder. Ich wurde durch die Medikamente empfindlicher, was Geräusche und Stimmungen anging. Kaum hatte jemand schlechte Laune, verzog ich mich, und bei Fernsehserien fing ich während der peinlichsten Szenen an zu heulen. Nach einem halben Glas Alkohol wurde ich gesprächig und flirtete mit jedem, der auch nur ansatzweise männlich aussah. Mir fehlte dringend Nähe, und ich hatte keine Lust mehr, weiterhin allein aufzuwachen. Also fing ich an, mich nach einem Partner umzusehen.

    Einer meiner Professoren lud mich zu einer Party ein. Viele aus meinem Semester waren da, eine Band spielte, es gab ein kaltes Büffet und genug Getränke, um eine Belagerung auszuhalten. Ich tanzte viel und sah mich um, doch niemand fiel mir auf, mit dem es sich gelohnt hätte, mehr als fünf Minuten zu sprechen. Gegen zwei verabschiedete ich mich und beschloß, den kurzen Weg zu mir nach Hause zu laufen. Ich mochte das, einsam und verlassen durch die Straßen zu spazieren und fragte mich, wie es sein mußte, wenn man genau dasselbe in einer Großstadt tat, wo die Grenzen viel weiter gesteckt waren.
    Es war Oktober und eine von diesen ersten Herbstnächten, die eine Vorahnung von Winter mit sich bringen. Der Himmel war sternenklar und der Geruch von verbranntem Laub

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