Du bist zu schnell
Notbremse gezogen.
Eine Stunde später war ich bei meinem neuen Arzt.
- Natürlich kann ich Ihre Dosis erhöhen. Wenn Sie Angstzustände haben. Das soll ja nicht sein, sagte er und öffnete seinen Kalender, Wir gehen einfach auf die alte Menge zurück. Kommen Sie doch nächsten Mittwoch wieder. Da machen wir dann eine kleine Untersuchung und besprechen noch einmal alles.
- Nächste Woche? sagte ich.
Er sah auf seine Uhr, sah mich an.
— Gibt es da ein Problem?
Ich weiß nicht, warum ich den Kopf geschüttelt habe. Ich glaube, mir wurde in diesem Moment bewußt, daß mir die normale Dosis keine Hilfe sein würde.
— Kein Problem, sagte ich.
Der Arzt schrieb mir eine kleine Notiz, damit ich den Termin nicht vergaß, und riet mir, mich richtig gut auszuruhen. Nachdem ich seine Praxis verlassen hatte, knüllte ich die Notiz zusammen und ließ sie auf die Straße fallen. Das war eindeutig der falsche Weg gewesen. Mir reichte das Medikament nicht, ich kannte die normale Dosis, mit ihr hatte ich angefangen, sie würde nichts bringen. Was ich brauchte waren Dämpfer, richtige Dämpfer.
Sie hieß Henna und war seit vier Jahren an der Uni. Sie wollte das noch vier Jahre lang machen, weil sie fand, daß es außerhalb der Studentenwelt nichts gab, was sie reizte. Wir hatten öfter schon zusammen Kaffee getrunken, Bücher ausgetauscht, und einmal kam sie zu Besuch, und wir quatschten die Nacht durch. Ich wußte, daß sie mich mochte, und erzählte ihr dennoch nur die halbe Wahrheit. Ich schilderte mein Problem, daß ich Ängste hätte, kaum Schlaf fand und daß mich mein Arzt nicht ernst nahm.
Mittendrin unterbrach mich Henna.
- Du willst was Kräftiges, einen richtigen Ausknocker, richtig?
Ich nickte.
— Gib mir drei Tage.
Nach zwei Tagen meldete sie sich. Ich besuchte sie in ihrer WG, ihr Laptop lief, wir waren allein in der Küche.
— Das hier, sagte Henna und tippte mit der Bleistiftspitze auf den Bildschirm, Ist eine von mehreren Optionen. Ich habe alle anderen abgecheckt und denke, mit dieser fährst du am besten. Etwas Vorarbeit ist dafür nötig. Ein paar kleine Untersuchungen, ein paar schlaflose Nächte, und du hast die gesamte Ärztekammer in der Tasche.
Ich beugte mich vor und las den Namen auf dem Bildschirm: Glossodynie.
- Diese Fälle sind so etwas wie der blind spot der Ärzte. Damit kriegst du sie in den Sattel und kannst sie auf ihrer Hoffnung davonreiten lassen. Du mußt sie aber hinlenken, sonst haben sie keinen Schimmer, wovon du sprichst. Lern die Symptome bis ins Detail. Beschränke dich dabei auf persönliche Probleme und noch mal persönliche Probleme. Niemand soll auf die Idee kommen, daß du an Vitaminmangel leidest.
Ich nickte und sah wieder auf den Bildschirm.
Glossodynie ist ein Zungenbrennen, das sich auch auf den
Gaumen und die Lippen ausweitet. Es tritt hauptsächlich bei Frauen in den Wechseljahren auf und geht einher mit Mundtrockenheit, Geschmacksstörungen und Durst. Glosso-dynie verstärkt sich bei Anspannung und Müdigkeit. Auch psychologische Aspekte wie beispielsweise Angstzustände, Depressionen oder Phobien spielen als krankheitsauslösende Faktoren eine Rolle. Da es oftmals keine Veränderung an der Schleimhaut oder der Zunge selber zu finden gibt, stehen die Mediziner vor einem Rätsel. Viele der Frauen verfallen in Depressionen und sind suizidgefährdet. Man verschreibt ihnen trizyklische Antidepressiva und Therapien und hofft so auf Besserung.
— Ein Schmerz in der Zunge? sagte ich
— Ein andauerndes Brennen, korrigierte mich Henna, Tag und Nacht, mal an-, mal abschwellend, aber immer unwiderruflich anwesend. Das kann dich schon schaffen. Und da den Ärzten nichts einfällt, pumpen sie die armen Frauen mit Antidepressiva voll. Prima, was?
Ich nickte.
— Und du meinst...
Henna winkte ab und druckte mir die zwei Seiten aus.
— Das kriegen wir mit links hin. Ich weiß auch schon den richtigen Arzt. Er ist neu und froh über jeden Patienten. Außerdem sieht er süß aus. Den knackst du mit links.
Mit links war etwas übertrieben.
Ich bereitete mich die Woche über auf meinen Besuch vor. Schlief am letzten Tag wenig, war abgehetzt und hatte vom Rauchen und dem vielen Kaffee Zitteranfalle. Als mich der Arzt fragte, was mein Problem wäre, brach ich in Tränen aus und wollte wieder gehen. Es war perfekt. Ich war schwach und hilfsbedürftig, und er war stark und hilfsbereit. Ich
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