Du bist zu schnell
ich---
- Ich hänge auch keinem Phantasieland nach, unterbricht mich Val, Ich bin auf der Suche nach dem Mörder meiner besten Freundin, und du läßt dich von irgendwelchem Gela-ber über Fokus und selektive Wahrnehmung zufriedenstellen. Es tut mir leid, daß ich darüber lache, aber ich habe dich schon etwas anders eingeschätzt.
Val verstummt, ich drehe mich zu ihr um.
- Bist du fertig? frage ich.
- Fertiger geht es nicht, sagt Val.
- Gut, denn um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was ich glauben soll. Ich weiß nicht, ob sich Jenni umgebracht hat oder ermordet wurde. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Und mir ist egal, was die Ärztin denkt, und ob es Quatsch ist oder nicht. Ich selbst habe nämlich das Gefühl, vor Jennis Tod davonzurennen, indem ich ihren Mörder suche, ohne zu wissen, ob es einen Mörder gibt. Mir reicht es. Für mich ist die Jagd beendet. Da drinnen bei der Ärztin habe ich die Kontrolle verloren, und ich mag es nicht, die Kontrolle zu verlieren. Ich habe genug und will erst einmal damit klarkommen, daß es Jenni nicht mehr gibt.
-Theo, sagt Val und berührt meine Schulter, Jenni hat sich nicht umgebracht.
-Woher willst du das wissen?! fahre ich sie an und weiß, ich bin zu laut.
- Jenni hätte das nie getan, sie---
-Woher willst du das wissen?
Val verstummt, und das ist gut so. Ich will nicht hören, was sie zu sagen hat. Ich will nur nach Hause.
- Ich will nur noch nach Hause, sage ich.
Marek weckt mich. Seine Augen sind gerötet, die Wangen wirken eingefallen. Er sieht so erschöpft aus, daß ich mich schuldig fühle, die beiden nicht zu mir einzuladen. Aber mein Entschluß steht fest. Genug ist genug.
Ich sehe aus dem Fenster. Wir parken in meiner Straße. Das fahle Licht der Laternen, die Graffitis, die schlecht beleuchteten Hausnummern. Ich werfe einen Blick nach hinten, Val schläft. Ich sage zu Marek:
- Ich muß allein sein.
Er nickt, ich merke aber, daß er mich noch nicht gehen lassen will.
-Jenni hat es nicht getan, sagt er nach einer Pause, Du hättest sie sehen sollen, Theo. Niemand würde sich selbst so zurichten. Und dann die fehlenden Finger, denk doch mal darüber nach.
- Ich denke über nichts anderes nach, sage ich und schüttle ihm die Hand.
- Ist der Kofferraum offen?
Marek nickt.
Ich steige aus und nehme Jennis Tasche aus dem Kofferraum. Im Hauseingang drehe ich mich ein letztes Mal um und sehe nur noch die Rücklichter von Mareks Wagen. Ich lasse die Haustür zufallen und gehe die Treppe hoch. Meine Hände sind verschwitzt, der Wohnungsschlüssel fällt mir aus der Hand.
— Hallo? sage ich leise.
Jenni kommt aus der Küche, sie rennt durch den Flur und schließt ihre Arme um mich.
Ich hänge den Mantel auf, streife die Schuhe ab, sehe in den Spiegel.
Jenni fragt, wie es gewesen war, sie sagt, sie würde schon lange auf mich warten.
Ich gehe durch die Zimmer, mache die Lichter an, mache sie wieder aus, stehe am Küchenfenster und schaue in den Hinterhof. Aus dem Eisfach nehme ich eine Flasche Wodka und lege mich auf das ungemachte Bett. Ich schiebe mir zwei Kissen in den Rücken, trinke den ersten Schluck.
Jenni legt sich zu mir und fragt, ob ich die ganze Flasche allein trinken will.
-Auf dich, sage ich.
Der Plan ist nicht, sich gnadenlos zu betrinken, um zu vergessen. Der Plan ist, sich gnadenlos zu betrinken, um sich besser zu erinnern. Ich weiß, mit jedem Schluck wird mehr von der Erinnerung hervorkommen. Betrunken ist sie leichter zu ertragen. Alles bekommt eine feine Beleuchtung, edle Farben und den perfekten Soundtrack. Alles scheint dann so greifbar nahe.
Jenni sagt, sie wäre müde und würde ein wenig schlafen. Ihr Kopf ruht auf meiner Brust, mit der einen Hand streichle ich ihr übers Haar, mit der anderen setze ich die Flasche an. Der Film beginnt. Die Dunkelheit wird von kleinen Szenen erleuchtet. Dr. Lorrent müßte jetzt hier sein, um zu sehen, was das Verschieben der Realität oder selektive Wahrnehmung wirklich bedeuten. Wunden heilen. Tote erwecken. Die Magie der Erinnerung.
— Schlaf, Jenni, sage ich.
2
Der nächste Morgen ist hell und überraschend still. Ich fühle mich schwerelos, mein Kopf ist klar, auch als ich aufstehe, bin ich sicher auf den Beinen. Die Wodkaflasche liegt leer auf Jennis Bettseite, die Uhr zeigt 11:04. Ich stelle mich ans Fenster und glaube nicht, was ich sehe.
Die gesamte Straße ist von einer dichten Schneeschicht
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