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Du bist zu schnell

Titel: Du bist zu schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Drvenkar
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den Hacken kehrt und schiebt sich an mir vorbei. Ich sehe ihn die Küchentür hinter sich schließen, dann ist Ruhe.
    THEO
1
    Sie lehnt am Waschbecken und raucht einen Zigarillo. Ich kann an ihrem überraschten Gesicht erkennen, daß sie nicht erwartet hat, daß einer von uns zurückkommt. Ich bleibe einen Meter vor ihr stehen und hebe beschwichtigend die Hände.
    — Okay, hier ist mein Vorschlag. Sie erzählen mir, was Sie wissen, und ich verschwinde. Falls Sie denken, irgend einer Ihrer Patienten wäre gefährlich, dann wissen Sie nicht, wozu ich fähig bin. Ich habe einen mir sehr wichtigen Menschen verloren, weshalb ich herausfinden will, was es mit diesen Schnellen auf sich hat. Warten Sie, ich bin noch nicht fertig. Mich interessiert Vals Krankengeschichte kein Stück. Mein Interesse bezieht sich nur auf die Schnellen. Und glauben Sie mir, ich bin so weit, eine Menge Dinge anzustellen, um Antworten auf meine Fragen zu bekommen. Deswegen überlegen Sie sich genau, was Sie mir hier und jetzt antworten, sonst stehe ich morgen früh wieder vor Ihrer Tür und werde Sie bis zum 5. Januar jeden Tag besuchen. Ich bitte Sie.
    Die Ärztin blinzelt einmal, dann sagt sie:
    —Verschwinden Sie, oder ich rufe die---
    Ich mache zwei Schritte auf sie zu. Meine rechte Hand schließt sich um ihren Hals, mit der linken drücke ich ihre Wangen zusammen, so daß sie nicht schreien kann. Mein Körper preßt sich an ihren, sie kann sich nicht rühren. Ich wundere mich, daß es so leicht geht. Mein Instinkt hat die Kontrolle übernommen.
    —    Ich wiederhole mich jetzt nicht, sage ich und weiche ihrem Atem aus, der nach Zigarillo riecht, Ich bitte Sie nur noch einmal, sagen Sie mir, was Sie wissen.
    Ihre Augen starren und starren, und dann nickt sie einmal. Ich lasse ihren Hals los, nehme meine Hand von ihrem Mund und trete einen Schritt zurück.
    —    Es gibt...
    Sie hustet, reibt sich den Hals, sieht auf den heruntergefallenen Zigarillo, der auf den Fliesen weiterglüht, sieht mich wieder an.
    —    ... es gibt verschiedene Fälle, in denen von den Schnel
    len berichtet wird. Oft wird es eine Zeitverzögerung genannt, wir benutzen eher den Begriff der gestörten Zeitwahrnehmung. Das Auge ist bei psychotischen Fällen nicht gewöhnt, alle Gegenstände in seiner Peripherie deutlich wahrzunehmen. Also selektiert es und fokussiert sich auf einzelne Punkte. So kann ein Fahrzeug rasend vorbeifahren, während alle anderen zu schleichen scheinen. Die Realität verrutscht, der Betrachter sieht, was er zu sehen glaubt. Was Ihrer Freundin da passierte, ist nichts weiter als eine selektive Wahrnehmung. Ein Fokus gibt bestimmten Details mehr Wert. Bei einer Psychose brechen Filter zusammen und verschwinden oft völlig. Danach muß sich das Gehirn entscheiden, was es wahrnehmen will. Jedes Licht ist mit einem Mal ein wichtiges Licht, jede Geste zählt, jede Kleinigkeit löst im Kopf ein Feuerwerk von Zusammenhängen aus. Das Gehirn kann dem nicht folgen, die Synapsen reagieren unkontrolliert, was in vielen Fällen zu Visionen führt---
    —    Langsam, unterbreche ich sie, So genau wollte ich das nicht wissen. Das sind nach Ihrer Meinung also alles nur Visionen, sehe ich das richtig? Aber was ist mit den Schnellen?
    —    Der Fokus Ihrer Freundin hat sich auf Schnelligkeit fixiert, mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Was Ihre
    Freundin auch sah, sie sah es in ihrem psychotischen Zustand. In der Realität bekommt sie davon nichts mit, aber das wissen Sie sicher selber. Nimmt Sie weiterhin Medikamente? Achten Sie darauf, daß sie ihre Medikamente nimmt. Wer einmal die Tür zur Psychose aufgestoßen hat, hungert danach, sie offen zu halten. Dahinter liegt ein Land der Phantasie, und die Schnellen sind Götter in diesem Land.
    Sie atmet einmal laut aus, bevor sie weiterspricht:
    -    Es tut mir aufrichtig leid, daß Sie einen wichtigen Menschen verloren haben. Sie können mir aber glauben, daß es nichts mit den Visionen Ihrer Freundin zu tun gehabt hat. Nichts, verstehen Sie?
    Ich bücke mich und hebe ihren Zigarillo auf. Als ich ihn der Ärztin reiche, zittert ihre Hand nicht.
    —    Danke, sage ich und verlasse die Küche.

    Kontrolle war für mich schon immer ein Problem, aber das eben hätte ich nicht erwartet. Ich weiß genau, was Jenni jetzt sagen würde. »Endlich.« Nur dieses eine Wort. Wie gerne sie mich gereizt hat, um Reaktionen aus mir hervorzulocken.
    Ich kann in den unangenehmsten Momenten ruhig bleiben.

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