Du denkst, du weißt, wer ich bin
versuchte, meine Hausaufgaben zu erledigen. Ein Kampf war es immer, aber an dem Abend war es unmöglich. Am Ende nahm ich mir den iPod und legte mich aufs Bett.
Gegen neun Uhr sah Mum nach mir. Sie war fertig, fix und fertig und wirkte vollkommen k.o.. »Jemand hat an deinen Hausschuhen geknabbert«, stellte ich fest.
»Ich war’s nicht«, sagte Mum. »Ich glaube, Ralphy hat Angst, sie wollen meine Füße auffressen.«
Ich lachte. »Und dabei haben alle gesagt, er würde nie einen ordentlichen Wachhund abgeben.«
Mum lächelte. »Danke, dass du dich um das Essen gekümmert hast, Liv«, sagte sie. »Was würde ich nur ohne dich machen?«
Ein leichteres Leben führen, dachte ich . Immer noch verheiratet sein. Weniger Sorgen haben.
Mum gähnte. »Ich gehe ins Bett«, sagte sie. »Ich lese noch eine Weile, wenn du was von mir willst. Wir sehen uns morgen früh.«
Dann kam ein klappriges Surren von unserem halbtoten Badezimmerventilator, und ein paar Minuten später das Klicken von Mums Nachttischlampe.
Ich überlegte mir, auch ins Bett zu krabbeln, aber ich war hellwach. Die Band wäre mit Sicherheit jetzt schon im Rainbow angekommen. Sie hätten wahrscheinlich schon einen Soundcheck gemacht und würden gerade ihre Playlist festlegen. Die anderen wären vielleicht angespannt, aber Dallas lachte bestimmt und würde ihnen die Nervosität nehmen. Es war total frustrierend, zu wissen, dass er ganz in der Nähe war – aber von meiner Existenz nichts wusste.
Der Wind kam aus der Bucht und ließ den Baum in unserem Garten hin- und herknarren. Nüsse und Blätter trommelten wie Regen aufs Dach. Ich setzte mich auf. Vielleicht sollte ich doch gehen. Warum nicht? Mich mit Miranda zu einem Gig herauszuschleichen wäre doch wahrhaftig eine Art, zu zeigen, dass ich mich der Vergangenheit stellen konnte. Ich war nicht blöd genug, zu glauben, dass ich wirklich ins Rainbow reingelassen würde. Aber vielleicht könnte ich Dallas durch irgendein Fenster flüchtig sehen. Das war doch schließlich nicht ganz undenkbar?
Ich stand auf und schlich mich in den Flur. Mein Herz pochte. Im Haus war alles still. Ich ging weiter zu Mums Zimmer und linste hinein. Das Nachttischlämpchen war noch an, aber Mums Augen waren geschlossen, und ein offenes Buch hob und senkte sich auf ihrer Brust im Rhythmus ihrer Atemzüge.
An der Haustür zögerte ich. Das war schon ziemlich verrückt! Aber immer mehr Gründe, es doch zu tun, kamen mir in den Sinn. Ich würde in einer Stunde zurück sein – vielleicht sogar eher. Mum würde nicht einmal erfahren, dass ich weg gewesen war. Und dies könnte meine einzige Chance sein, mein Musikidol zu sehen, den einzigen Typen auf der ganzen Welt, von dem ich instinktiv wusste, dass er mich verstehen würde.
Ich schnappte mir etwas Geld, schlüpfte in meine Sneaker. Es war keine Zeit mehr zum Umziehen – und überhaupt, wenn ich jetzt noch einmal in mein Zimmer ging, könnte ich den Mut verlieren. Erst als ich schon mit meinem Fahrrad auf dem Weg zum Rainbow unterwegs war, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, meine Medizin zu nehmen. Na gut. Dann würde ich sie eben nehmen, wenn ich wieder nach Hause käme.
Der Wind in meinem Rücken tobte und trieb mein Rad mit Höchstgeschwindigkeit voran. Ich brauchte kaum zu strampeln. Die Straßen waren verlassen, und erst, als ich um die Ecke auf die Promenade einbog, sah ich irgendwelche Lebenszeichen. Und da schimmerte das Rainbow Hotel vor mir hell erleuchtet auf.
Ich fuhr langsamer, zwischen den Leuten hindurch, die auf der Straße vor dem Hotel standen und plauderten und rauchten. Im Türrahmen des Rainbow stand der Rausschmeißer – ein Felsbrocken von einem Kerl, seine Kinnlade bearbeitete einen Kaugummi. Ich schloss mein Rad an einen Pfahl und atmete ein paar Mal tief durch.
Keine Angst. Miranda wird wahrscheinlich nicht einmal auftauchen , sagte ich mir. Aber als ich mich umdrehte, sah ich sie neben den Plakatankündigungen stehen.
Sie lächelte und kam direkt zu mir herüber. »Hey! Du hast es geschafft!«
Ich war überrascht, wie herzlich sie klang. Als ob sie ehrlich erfreut wäre, mich zu sehen.
»Also, wir machen es so«, begann sie, in ihrer Stimme schwang ein Hauch Erregung mit, und mein Herz machte einen Satz. Ich glaubte plötzlich, dass dies alles tatsächlich klappen könnte. Oder auch nicht, aber dann hätte es wenigstens Spaß gemacht, es zu versuchen. »Sieh niemandem direkt in die Augen, aber sieh auch nicht nach unten. Schau nur
Weitere Kostenlose Bücher