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Du findest mich am Ende der Welt

Du findest mich am Ende der Welt

Titel: Du findest mich am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Barreau
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zusammenzuckte. Dann ging ich zum Ausgang
und starrte eine Weile fassungslos in den strömenden Regen.
    June war tatsächlich weg.
    Als ich zurückging, sah ich, daß auch Mademoiselle Conti ihren
Schreibtisch verlassen hatte. Das ganze Hotel schien plötzlich ausgestorben und
wirkte so, als hielte es erschreckt den Atem an.
    Dann hörte ich Schritte auf der Treppe, drehte mich unvermittelt um,
weil ich dachte, Jane käme herunter, und prallte mit Luisa Conti zusammen, die
mit einem Stapel Porzellan im Arm aus dem Keller kam. Wie in Zeitlupe sah ich
das Geschirr zu Boden fallen und in tausend Einzelteile zerspringen.
    Zu dieser Zeit konnte man im Duc
de Saint-Simon – und nur da! – das Geschirr Eugénie, das von der
Porzellanmanufaktur Limoges eigens für das Hotel angefertig wurde, auch kaufen.
Viele Gäste machten davon Gebrauch und freuten sich über das kostbare Souvenir
mit dem boudoirhaft anmutenden Dekor in Weinrot und Goldgelb.
    Ich starrte wie Hamlet auf seinen Totenkopf auf den Scherbenhaufen
zu meinen Füßen. Sein oder Nichtsein. Das war der krönende Abschluß einer
unrühmlichen Vorstellung.
    Â»Oh nein!« Mademoiselle Conti sah entsetzt auf das zerbrochene
Porzellan. »Das teure Geschirr!«
    Sie ging in die Hocke und fing an, rasch die Scherben aufzusammeln.
»Du meine Güte, so ein Pech! Das wird Ärger geben.«
    Ich erwachte aus meiner Lethargie. »Warten Sie, ich helfe Ihnen«,
sagte ich und kniete mich zu ihr. »Seien Sie vorsichtig, die Kanten sind ganz
scharf.« Unsere Blicke kreuzten sich für einen Moment, als wir wortlos das
Malheur beseitigten. Was war auch noch zu sagen?
    Â»Das ist alles meine Schuld«, meinte ich schließlich verlegen und
starrte auf eine hübsch bemalte Scherbe in meiner Hand. Wieder und wieder lief
der Film mit der aufgebrachten June vor meinem geistigen Auge ab, ihre Worte
hallten in meinen Ohren, und ich wünschte mir die Erdspalte, in die man einfach
versinken kann. Statt dessen stand ich auf und versuchte ein Lächeln, aber
nicht einmal das glückte so richtig. »Tja. Ist wohl nicht mein Tag heute.«
    Auch Luisa Conti hatte sich aufgerichtet. Sie sah mich ein paar
Sekunden schweigend an, und die Augen hinter ihrer dunklen Brille ließen nicht
erkennen, was sie wirklich dachte. Wahrscheinlich ärgerte sie sich über den
Idioten, der die vornehme Ruhe ihres Hotels störte. Doch dann rieb sie sich mit
der Hand ein paarmal über ihren dunkelblauen Rock und sagte: »Tut mir wirklich
leid für Sie.« Es klang aufrichtig, aber vielleicht hatte sie sich einfach nur
sehr gut im Griff.
    Â»Nein, nein.« Ich hob abwehrend die Hände. »Mir tut es leid. Ich
werde das zerbrochene Geschirr bezahlen, machen Sie sich keine Sorgen deswegen.
Ich regle das schon.«
    Ein winziges Lächeln huschte über Mademoiselle Contis Gesicht, aber
ich hatte es doch gesehen. Immerhin gab es wenigstens eine Kleinigkeit, die ich
richtig gemacht hatte.
    Die schöne eifersüchtige June jedoch war an diesem düsteren Tag im
März nicht nur aus dem Duc de Saint-Simon hinausgestürmt, sondern auch aus
meinem Leben. Meine anfangs unglücklich-drängenden, später dann
halbherzig-erlahmenden Versuche, sie zurückzugewinnen, liefen ins Leere.
    Miss June hüllte sich in eisiges Schweigen.
    Kurze Zeit später erfuhr ich von einer Freundin, daß sie wieder in
London sei.
    Ein Jahr war seither vergangen. Doch die Zeit hat es an sich, daß
sie nicht nur alle Wunden heilt, sondern auch Vergangenes in ein ganz
besonderes Licht rückt. Plötzlich erinnert man sich seufzend nur noch an das
Schöne, das so unwiederbringlich verloren ist.
    War es verloren?
    Konnte es sein, daß June zurückgekehrt war an den Ort, wo unsere
Geschichte so abrupt zu Ende ging? Hatte sie die mysteriösen Briefe geschrieben?
Hatte Sie mir paradoxerweise inzwischen vielleicht sogar eine Tat verziehen,
die ich nie begangen hatte? War ihre Wut der Einsicht gewichen? Immerhin hatte
die Verfasserin der Briefe zugegeben, daß es »auch ihre Schuld« gewesen war.
    Versonnen lächelte ich die grüne Lederbespannung des
Schreibtisches an. In meinem nächsten Brief würde ich der Principessa ein paar
passende Fragen stellen …
    Â» Jean-Luc – on y va? Hallo? Gehen wir? Oder sollen wir den Tag lieber an der
Rezeption in der Gesellschaft dieser bezaubernden Dame

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