Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
noch kurz vor Storms Erscheinen die Bilder aufgehängt haben? Zu den Fenstern hinaus geht der Blick auf die nahe liegenden Weinberge.
Dann erscheint Frau Gretchen, eine schlanke Gestalt von etwa 35 Jahren, sie heißt Storm in einer gewissen mädchenhaften scheuen Weise […] willkommen und setzte mir zum Frühstück gesottne Kringel, ungesalzene Butter und Käse, nebst selbstgezogenen Mergentheimer Wein vor, der natürlich wie Wasser aus Biergläsern getrunken wird, berichtet Storm an Brinkmann.
Der fünfzigjährige Mörike trifft ein und begrüßt den achtunddreißigjährigen Storm. Anzunehmen, dass dem Schwaben und ehemaligen Pfarrer nach Unterricht und Schulweg die Anstrengung noch im Gesicht steht. Seine feinen Züge sind etwas verfallen; er ist kränklich, hypochonder , schreibt Storm weiter. Das hat Mörike seinem Storm schon einmal selber eröffnet: Ich bin Hypochonder von Haus aus . Kränklich und hypochonder, das ist auch Storm. Mörike führt seinem Gast das Haus vor, im Schlafzimmer steht ein Vogelkäfig mit zwei Rotkehlchen und Mörike meint in einer von Storm behelfsmäßig schriftlich dahingeschwäbelten Redeweise: Richtige Gold- und Silberfäde ziehe sie heraus; sie singe so leise; man meint, sie wolle das Kind nit wecke . Wo aber ist das Kind Fanny? Wird das mit Storms Lisbeth gleichaltrige Mädchen von seinen Eltern nicht vorgezeigt? Kein Wort von Vater zu Vater?
Noch am Nachmittag unternehmen Mörike, Hartlaub und Storm einen Stadtspaziergang. Dem Norddeutschen fallen die altertümliche Einfachheit der Stadt und die bescheidene Kleidung der Stuttgarter auf. Zu Hause liest Mörike vor. Der Hausherr schleppt persönlich einen Extrasessel für den Gast herbei, dann hören Hartlaub und Storm Mörike zu: »Mozart auf der Reise nach Prag«. In einer Lesepause sagt Hartlaub in der Storm-Übertragung: I bitt Sie, is das nu zum Aushalte! Der schwäbische Tonfall ist hier gut getroffen; aber ist er auch gut geschrieben? Storms Urteil über den Text: In der That schön. Man spricht über Arbeit und Leben, Dichten und Denken. Heine, Heyse und Geibel werden durchgenommen. Mörike bezieht Stel-
lung gegen die Vielschreiberei . In Storms »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike«, die er zwanzig Jahre nach diesem Besuch und ein Jahr nach Mörikes Tod verfasst, greift er dieses Motiv auf, er lässt ihn sagen: Das poetische Schaffen […] müsse nur so viel sein, daß man eine Spur von sich zurücklasse; die Hauptsache aber sei das Leben selbst, das man darüber nicht vergessen dürfe . Diese Unterhaltung mit Mörike hat siebzig Jahre später Franz Kafka beschäftigt. Er las Storms »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike« im Reclam-Band »Erinnerungen und Familiengeschichten«, der 1922 erschienen war.
Verglichen mit Mörike und Kafka ist Storm ein Vielschreiber, ein Arbeitssüchtiger. Ein Tag ohne poetisch-künstlerisches Schaffen, die Briefkunst gehört dazu, ist für ihn ein verlorener Tag, der ihn in Unruhe und Zukunftsängste stürzt. Tee-Zeremonie und Weihnachtsfeier, Literaturabende, die eigentlich Behaglichkeit und Muße bringen sollen, sind in Wahrheit quasi-religiöse Einmaligkeiten, die nicht der Entspannung dienen, sondern der Lebensspannung, die Storm wie das tägliche Brot braucht und halten muss. Er kann nicht loslassen, und das sieht manchmal aus wie Treue, die gewiss auch ein Stormscher Charakterzug ist. Was ihm einmal wichtig geworden ist, hält er mit all seinen Seelenkräften fest, Ehefrau und Kinder, Freunde und Kunst, Heimat und Heimweh. Die Seele nimmt ihn in die Pflicht; ein Pflichtbewusstsein, das auch Herr über seine Seele wäre, kennt er nicht; die Storm-Seele hat alle emotional gestrickten Verbindungen fest miteinander verknotet. Der Beruf erscheint da als fremdes Teil, nie steht er auf vertrautem Fuß mit seinem Amt, auch wenn er selber das Gegenteil behauptet; und das ist eines von mehreren Motiven der Abneigung, die er gegen Preußen hegt.
Die Nacht bei den Mörikes schläft Storm wie ein Prinz unter der schönsten purpurseidenen Steppdecke . Am nächsten Tag reisen Storms Eltern aus Heidelberg an. Mörike äußert sich, Storm hat das immer wieder betont, respektvoll und bezaubert über die achtundfünfzigjährige Mutter Lucie und den fünfundsechzigjährigen Vater Johann Casimir, auch Gretchen Mörike meint: Aber en passant Sie habe recht liebe, liebe Eltern . Zum Abschied gibt es Mitbringsel für die Lieben daheim. Mörike schenkt Constanze ein Gedicht in Spiegelschrift: Ein
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