Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Mörike fünfzehn Jahre lang die briefliche Treue hielt, ohne ein Echo zu erhalten – der Kondolenzbrief kann hier nicht zählen – mag einer von vielen Belegen für das Stormsche Wesen des Nicht-Loslassens sein, es mag aber auch ein Beleg sein für sein Einfühlungsvermögen und sicheres Gespür. Ahnte er, dass Mörike in außergewöhnlich schwierigen häuslichen Verhältnissen lebte, die er nicht beherrschte, sondern von denen er sich beherrschen lassen musste? Mörikes Kondolenzbrief schließt mit unveränderlicher Verehrung und Anhänglichkeit , und das klingt nicht nach Formel, sondern nach spontan empfundener Menschenfreundlichkeit, ein Wesenszug, der ihn immer wieder in Bedrängnis brachte.
Mörike ist dreizehn Jahre älter als Storm, er hat seine beste Poetenzeit bereits hinter sich, als die beiden Dichter sich in Stuttgart treffen. Er heiratet spät, er wird spät Vater. Eine Zeit lang leben in seinem Haus neben Ehefrau Gretchen und den zwei Töchtern Fanny und Marie noch seine Schwester Clara, seine pflegebedürftige Schwiegermutter und eine Untermieterin, die Wohnung ist klein. Wo sind Raum und Ruhe, um zu dichten oder einen Brief zu schreiben? Woher soll der Mann die Kraft nehmen, die er in seine Menschenfreundlichkeit investiert und bei Frau und Kindern, Anverwandten und Freunden verbraucht?
Ein säumiger Briefschreiber, das ist er tatsächlich, nicht nur im Falle Storm. Seiner Natur fehlt die Zähigkeit, die den Norddeutschen trägt, um seine Lebens- und Arbeitsprojekte durchzuziehen. Mörike ist schwach, konfliktscheu und nachgiebig, während Storm seine Ziele allzu oft blind und verbohrt verfolgt. Stellt man Storm und Mörike nebeneinander, dann gleicht der Norddeutsche, allen Schwierigkeiten zum Trotz, dem Kapitän, der fest auf den Planken seines Lebensschiffes steht. Mörike aber treibt wie ein Schiffbrüchiger in der aufgewühlten See.
Storm ist in der Familie unbestritten und unangreifbar das starke Oberhaupt, Mörike steht im Kreuzfeuer der Eifersüchteleien und Machtkämpfe seiner Frau Margarethe und seiner Schwester Clara. Nie wagt er, seiner Schwester, die sich ruinös in die Ehe und in die Kindererziehung einmischt, ein Bis-hierher-und-nicht-weiter entgegenzusetzen. Er steckt ein und reagiert auf Seelenattacken psychosomatisch wie Storm, behandelt seine Schmerzen mit opiumhaltigen Arzneien. Nicht nur ihn trifft es. Der Mörike-Krieg wirft, bis auf Tochter Fanny, den Mörike-Clan aufs Krankenlager. Der beste Freund und eifersüchtige Bewunderer Wilhelm Hartlaub beteiligt sich am Familienkampf, den die Schwägerinnen als ehemals innig verbundene Freundinnen auch noch nach Mörikes Tod auf dem Rücken der Töchter Fanny und Marie austragen. Ein Gipfel der Auseinandersetzung vor Mörikes Tod: Mörike trennt sich 1873, mit neunundsechzig, von seiner Frau, zwei Jahre vor seinem Tod. Er zieht mit Schwester Clara und Tochter Marie von Stuttgart nach Fellbach. Ein anderer Gipfel: Nach Mörikes Tod stiehlt Clara, angestiftet von Hartlaub, aus Gretchens Wohnung dessen Mörike-Briefe; er rückt sie nie wieder raus.
Die Beziehung Storm-Mörike wäre unvollständig beleuchtet, ohne einen Blick auf Storms Beziehung zu Margarethe Mörike. Beide tauschen nach Mörikes Tod Briefe aus, eine Korrespondenz, die bis kurz vor Storms eigenem Ende andauert. Für Margarethe Mörike wird der norddeutsche Dichter im Laufe der Jahre zur Autorität und Vertrauensperson, der sie sich geradezu mit Ehrfurcht zuwendet. Sie wagt schließlich, aus ihrem Lebensschicksal zu plaudern. Nicht seien ihre Eheprobleme durch die konfessionellen Unterschiede hervorgerufen worden, wie Storm vermute, sondern das gräuliche, jetzt noch und nie faßliche Unheil ist durch ganz anderes angerichtet worden! – Eifersucht – ein gewisser Übermuth, und eine Unzufriedenheit – dann die Erweiterung und Verstärkung des Unrechts durch einen Wall von Freunden, die Ed. immer näher umschloßen […] – und endlich das Gefährlichste: (Ihnen darf ich es wohl ins tiefste Herz legen:) Des lieben guten Mannes weichen vor der Gewalt . Margarethe ein Unschuldsengel, der ein Martyrium über sich ergehen lassen musste? Wohl kaum; denn im Familienkrach trägt nie einer die Schuld allein. Welches Potential in ihr steckte, mag man entnehmen aus dieser Bemerkung: Ich schweige immer sehr genau .
Der Briefwechsel mit Margarethe Mörike beginnt, nachdem Storm der Witwe seine Erinnerungen, die er 1876 während eines Besuches bei Freunden in
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