Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
eins« zu behaupten; entkommen dem Kalauer, der Storm doppelt erschreckte, weil seine Rütli-Freunde ihn aus dem Effeff beherrschten. Entkommen dem juristischen Lehrlingsstatus.
Es überrascht nicht, wenn Storm gleich von Anfang an in Heiligenstadt das findet, was er über alles schätzt: Behaglichkeit – seine Lieblingsbefindlichkeit und eines seiner Lieblingswörter. Potsdam? Es kann nur besser werden, denn Heiligenstadt ist nicht das Preußen von Potsdam, die Art von Land und Leuten gefällt ihm. Ohne Schnörkel sieht Storm auch die Schattenseite, die sozial Schwachen: Von dem knappen Leben dieser armen Leute aus den Gebirgsdörfern hat Unsereins bisher keine Vorstellung gehabt; dafür daß sie ihren Kartoffelbedarf auf dem Lande eines Bauern aussäen, arbeitet die ganze Familie den Sommer über […] für 13 Sack; wenn sie trocken Brod haben, sind sie vergnügt, als Luxusartikel zu ihren Speisen haben sie den Winter über 1 Pfund Schmalz gebraucht; der Tagelohn, wenn sie ja einen verdienen können ist 2 ½ sgr. [Silbergroschen] .
Theodor und Constanze, Mitglieder des Husumer Patriziats, dürfen sich auch in Heiligenstadt privilegiert fühlen. Als Richter ist Storm Respektsperson. Als Schriftsteller ist er das eher nicht, indessen: Es lebt sich hier leichter ohne die lästige Konkurrenz. Er greift hoch und redet dünkelhaft
von der Suche nach ihm Ebenbürtigen: Ob ich für meine intimsten Stunden, für ein geistig und gemüthliches Sich-Gehenlassen Leute d. h. Männer hier finden werde, ist wohl zweifelhaft; gemüthliche Leute gibt es hier, auch elegante Leute, Leute von berlinstem Schnitt; ob aber auch Leute von derart luxuriöser Bildung, zu denen ich nun leider gehöre, das ist wohl kaum zu hoffen, wenngleich die Privatbibliotheken einiger darauf hindeuten könnten. Nun, nous verrons.
Gedämpfte große Erwartungen. Storms oft zitierter Satz aus einem Brief an Ludwig Pietsch: Da ich nicht in Husum sein kann, so wünsche ich nur in Heiligenstadt zu sein wird verständlich; er fasst ihn allerdings elegant wie zu einer Formel stilisiert, er wählt einen Ton, den ihm Phantasie und Sprachgeschick eingeben, hier scheint mehr Dichtung als Wahrheit durch. Auch die Überlegung »Sollen wir hier bleiben«? gehört in das Reich der Phantasie. Sein Vater ist nämlich bereit, ihm ein Haus mit Garten in Heiligenstadt zu kaufen. Aber nie im Ernst hat Storm je daran gedacht, in Heiligenstadt zu bleiben. Seine Heimweh-Lagemeldungen, die er an Familie und Freunde schickt, haben allerdings ein günstigeres Format als die Meldungen, die von Potsdam ausgingen. Unterm Strich ist das Städtchen im katholischen Eichsfeld für ihn eine gute Adresse.
Und doch, es bleiben Hauptsachen mitzuschleppen: Krankheit und Hypochondrie, Geldnot und Bittbriefe, neue Kindersorgen und alte Liebesprobleme. Das Heimweh lebt und arbeitet als Krake bei Husum hinterm Deich mit seinen Fangarmen, die bis Heiligenstadt reichen und hält Storm mal mehr, mal weniger umschlungen. Auch Constanze sehnt sich in die Heimat zurück, zur Familie nach Segeberg, nicht zu den Storms in Husum.
Das Richtergehalt mit anfänglich fünfhundert Talern im Jahr reicht nicht für die große Familie und ihre Bediensteten. Novellen müssen geschrieben und auf dem Zeitschriften- und Buchmarkt verkauft werden. Vater Johann Casimir muss seinen Sohn weiterhin unterstützen. Auch dem Schwiegervater wird die Finanz-Misere geklagt: Wenn nur die Groschennoth nicht wäre, schreibt er; und auch Ernst Esmarch greift für den Schwiegersohn in die Tasche.
Wie groß der Tross ist, der im März 1857 am Pater Familias hängt, entnehmen wir einem Brief an den Freund Brinkmann. Neben Constanze sind es die Kinder Hans, Ernst, Karl und Lisbeth, die Freundin Rosa Stein aus Potsdam, Bruder Otto und sein Gärtnergehilfe Nikolaus aus Erfurt und schließlich eine sehr dumme Husumer Kindermagd und eine hiesige katholische Köchin – macht zusammen zehn.
Bruder Otto hat es jetzt auch hierher verschlagen. Sein Vater hat ihm sicher Heiligenstadt in angenehmen Farben geschildert, nachdem er zusammen mit Theodor da gewesen war. Letztes Jahr im August hatten die beiden ihren Blick auf das große Grundstück geworfen, und Johann Casimir, erfolgreicher, gewiefter Advokat und Geschäftsmann, roch den Braten. Der fast zwei Hektar große bebaute Grund und Boden wurde tatsächlich von den Besitzern Aldehoff verkauft an Otto Storm; möglich gemacht durch eine erhebliche Geldspritze und mit genauen Anweisungen
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