Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
Vom Netzwerk:
fünf vor halb neun, nach dreieinviertel Stunden Eisenbahnfahrt, kommt der Zug in Göttingen an. Die Storms übernachten im Hotel »Zur Krone«.
    Dort wickelt sich Storm am nächsten Morgen, dem 19. August in ein nasses Lacken, das mir aber nicht recht kalt schien und wenig Eindruck auf mich machte. Der gemeinsame Einkaufsbummel bringt Überzieher und Halsbinde für den Vater und einen Mechanik-Hut , einen Zylinder, für den Sohn. Die Stadt und Gegend heimelt mich recht an , schreibt er Constanze. Nachmittags um zwei fährt die gemietete Pferdekutsche von Göttingen nach Heiligenstadt. Storm behandelt noch kurz vor der Abfahrt seinen Rheumatismus mit einem kalten Wannenbad.
    Nun hat er seine erste Nacht im »Preußischen Hof« von Heiligenstadt verbracht, mehr schlecht als recht. Seine Stimmung ist gut, der Vater ist ihm Stütze. Die Hauptstraße, wo es die Nacht durch turbulent und laut zuging, sieht an diesem Morgen ganz nett aus . Der Wirt ist ein sehr angesehener Mann . Storm erfährt, wer die vorzügliche Pianistin war, die heute Nacht ein Stockwerk tiefer aufspielte. Er lässt sich zu einem Blick in die Zukunft hinreißen: Der hübschen Tochter vom Hause habe ich schon Visite gemacht, sie über ihr Spiel bekomplimentiert und ihr einen Singverein versprochen. Auch eine Wohnung haben Vater und Sohn besichtigt und für ein Jahr gemietet. Sie liegt draußen vor der Stadtmauer, zum Grundstück gehört ein wahrhaft ungeheuer großer Garten.
    Heiligenstadt war ehemals Hauptstadt des bischöflichen Fürstentums Eichsfeld, das seit 1022 vom weit entfernten Mainz aus regiert wurde. Zum Regieren musste der Bischof anreisen, Pracht und Präsenz zeigen, und wenn er wieder die Stadt verließ, dann blieben die Palais, die Klöster, die Kirchen und das Residenzschloss. Zum ersten Mal fiel die Stadt an Preußen im Jahre 1802 nach dem Reichsdeputationshauptschluss. Der Tilsiter Frieden brachte sie 1807 vorübergehend an das Königreich Westfalen, und ab 1815, nach dem Wiener Kongress, gehörte sie endgültig zu Preußen. Heiligenstadt wurde Kreisstadt im Regierungsbezirk Erfurt, Provinz Sachsen. Im Schloss residierte nun das Königliche Kreisgericht, preußische Juristen dienten hier ihrem König. Am 1. September 1856 wurde es die Arbeitsstätte des vom preußischen König berufenen Kreisrichters Theodor Storm.
    Seinem zukünftigen Vorgesetzten am Kreisgericht stattet er einen Anstandsbesuch ab, ein alter, ganz gemütlicher Herr, Katholik, Kreisgerichtsdirektor Franz Christian Wilhelm Christoph von Hentrich (1795–1870) . Als Storm ihn kennen lernt, ist er einundsechzig Jahre alt. Man bürdet dem »Neuen« eine Menge Arbeit auf, was Storm verdrießt. Auch drückt ihn die Sorge, man wisse hier nichts von seinem Dichten und Denken. Er fühlt sich als Schlemihl, dem sein Schatten fehlt. Man kennt nur den Kreisrichter, nicht den Poeten. Da muß ich ja also nöthigenfalls Spectakel schlagen.
    Innerhalb von zwei Tagen hat Storm mit seines Vaters Hilfe viel erreicht. Mehr Zuversicht als Zweifel nimmt er vom ersten Aufenthalt in Heiligenstadt mit. In Göttingen trennen sich die Wege, Storm reist zurück nach Potsdam, um dort den Umzug zu organisieren, ist fast zwölf Stunden unterwegs mit der Eisenbahn. Johann Casimir fährt via Goslar nach Husum zurück, um von dort die restlichen, nicht nach Potsdam beförderten Möbel, Hausrat und Storms geliebte Bilder auf den Weg nach Heiligenstadt zu bringen.
    In Potsdam kann sich Storm auf Freundeshilfe verlassen. Louise Schnee und zwei weitere helfende Hände packen mit an, Frauenhände. Dann geht das Umzugsgut »Bahnhof restante« nach Göttingen ab. Sechzig Reichstaler werden dafür fällig. Das Geld hat Storm bei Freund Schnee geliehen, und der hat es sich ebenfalls geliehen. Vater Johann Casimir zahlt dreiundsechzig Taler zurück, wie Storm in einem Brief an Hermann Schnee schreibt. Die Eisenbahn erweist sich für die 41 Meilen (307,5 Kilometer) lange Strecke als günstiges Transportmittel, sie ist schneller und billiger als der Pferdewagen des Fuhrmanns Dommler; der hätte 1 Reichstaler und 25 Silbergroschen pro Meile gekostet, macht für die Strecke Potsdam-Göttingen 75 Reichstaler und fünf Silbergroschen. Die Fuhrleute stehen schon auf der Verliererseite, die damals so bedichtet wird: Wer hat denn nur den Dampf erdacht / Die Fuhrleut’ um ihr Brot gebracht / Sie sind wahrlich übel dran / Mit der verfluchten Eisenbahn .
    Durch all die Plackerei ist Storm ganz mager dabei geworden,

Weitere Kostenlose Bücher