Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
Vom Netzwerk:
der Witwe Rüdiger, was aus dem Ehepaar Semme? Den dritten Akt beschreibt Storm in einem weiteren Brief nach Hause: Die Rüdiger wurde abermals auf den Schuldspruch der Geschworenen zum Tode verur-
th[ei]lt. Es war ganz entsetzlich, wie sie sich, um den Ausspruch zu vernehmen,
bei ihrer Wiederhereinführung in den Saal an ihren Platz schleppte, und, nach dem das »Schuldig« ihr vorgelesen war, von der Banck herunterglitt und mit gerungen[en] Händen und mit einer von Todesfurcht gebrochenen Stimme uns zur Urtelsfindung [sic] abgehenden Richtern nachrief: »Ach, liebe Herren, haben sie [sic] doch Erbarmen mit mir!« Wir konnten indeß keines haben; die Geschworenen hatten ihr Schuldig gesprochen und das Gesetz dictirten [sic] den Tod; wir mußten ihn verkünden. Ein paar Tage nachher fand man sie in der Zelle an einem Strick erhängt, den sie aus einzelnen Zwirns-Fäden ihrer Näharbeit, die ihr verstattet war, wohl schon seit längerer Zeit heimlich und mühsam zusammengedreht hatte.
    Vierter Akt: Mörder Semme kann nach der Vernehmung seiner Gefängniszelle entfliehen, er wird in Preußen per Steckbrief gesucht, in Berlin stellt er sich und behauptet, er sei unschuldig zum Tode verurteilt, nun wolle er zum Kronprinzen. Der Mörder landet wieder in Heiligenstadt, dann wurde Semme in Begleitung zweier elegant in Civil gekleideter Constabler wieder in unser Gefängnishaus eingebracht; dessen Thür sich jetzt vielleicht zum allerletzten Mal hinter ihm geschlossen; denn im innern des Hofes finden die Hinrichtungen statt.
    Storm hat in Heiligenstadt nicht nur an diesem Todesurteil mitgewirkt. Wäre es vollstreckt worden, dann hätte er als einer der vier am Richterspruch Mitwirkenden der Hinrichtung beiwohnen müssen, so sah es das preußische Strafgesetzbuch vor. Storm ist aber offensichtlich nie Augenzeuge einer Hinrichtung gewesen; er selber hat darüber nichts verlauten lassen. Mörder Semme wird es ergangen sein wie den meisten zum Tode Verurteilten in Preußen. Sie wurden vom König begnadigt, die Todesstrafe wurde oft in eine lebenslange Zuchthausstrafe verwandelt, und nicht selten endete das Leben eines Verurteilten mit Selbstmord in der Zuchthauszelle.
    In seinen Briefen kommentiert Storm die von ihm mitgetragenen Todesurteile ohne erkennbare Anteilnahme und wie in fortgesetzter Geschäftsroutine. Er leidet augenscheinlich keine Seelennot, wenn das »Schuldig« gesprochen wird und er und seine Kollegen das Todesurteil ermitteln und verkünden. Auch behelligen ihn offensichtlich keine Gewissensfragen. Das verwundert deswegen, weil Storm sich später in seinen »Zerstreuten Kapiteln« (1871) entschieden und leidenschaftlich zur Todesstrafe äußert: Die nach uns kommen, werden (…) sich das für sie Unbegreifliche zu beantworten suchen, wie jemals einem Menschen das Abschlachten eines andern von Staats wegen als eine amtlich zu erfüllende Pflicht hat zugemutet werden können; denn nicht auf seiten des Delinquenten, sondern auf seiten des Henkers liegt für unsere Zeit die sittliche Unmöglichkeit der Todesstrafe . Liegt dieser fest behauptete Standpunkt, der mit voller Kraft auf halber Strecke liegen bleibt, in einer Mogelpackung? Ist er etwa eine untaugliche poetische Stilisierung, die Storm gern zur rhetorischen Beschönigung einsetzt? Storm lehnt die Todesstrafe ab ausschließlich aus der Sicht des Henkers, dem das Abschlachten nicht zugemutet werden darf. Henkers Sicht ist Richters Sicht, denn der Henker ist der verlängerte Arm des Richters. Den zum Tode Verurteilten hat Storm in seinem »Zerstreuten Kapitel« nicht auf der Rechnung. Musste aber nicht dessen Leben auch für Storm in einer Für-und-Wider-Diskussion der Dreh- und Angelpunkt sein?
    Ausgleich für die aufwendigen Schwurgerichtssachen, die an seiner Zeit und Gesundheit fressen und ihn über das unliebsame Amt klagen lassen, ist die Arbeit als Bagatellrichter in Heiligenstadt, sie bringt das Übermaaß von Gemüthlichkeit. Man versteht nun, warum Storm nicht nur über sein Richteramt jammert, sondern später auch sagen kann: Mein richterlicher und poetischer Beruf sind meistens in gutem Einklang gewesen . Das hängt in Heiligenstadt auch mit Storms Lokalterminen zusammen. Einmal wurde im Tannenwald protocollirt, angesichts des schönsten Thales, ein andermal in einem großen Bauerngut, wo Zeugenvernehmung und Feldkieker schmausen auf das angenehmste verbunden wurde; einmal war Constanze mit, einmal die Jungens; in diesem letzten Termine bei dem

Weitere Kostenlose Bücher