Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
1862. Storm konnte sein Klavier nicht mit ins Exil nehmen. Das solide forte piano ist ein Geschenk von Johann Casimir. Er kauft es bei der Firma Ibach in Barmen für 220 Reichstaler und schenkt es seinem Sohn Weihnachten 1858.
Störmchen, Störmchen, es ist zum Verzweifeln
Im Sommer 1858, als Constanze sich mit Schwester Sophie und den Kindern auf eine Reise nach Segeberg vorbereitet, liegt im Kreisgericht Heiligen-
stadt ein Kriminalfall auf dem Richtertisch, der von verbrecherischer Energie und Spannung strotzt und an moralischer Verkommenheit und Heimtücke kaum zu übertreffen ist. Dieser Fall beschäftigt Storm schon seit ein paar Monaten. Bereits im März hat er seinem Vater von der cause celebre geschrieben, daß die Ehefrau des Tagelöhners Semme sich auf Anstiften der verwittweten Porzellainmaler v. Rüdiger, einer Stieftochter des ermordeten etwa 60 jährigen Rentiers Hoyer – Nutznießer eines Theils ihres mütterlichen Vermögens – diesem pp Hoyer in Gegenwart und nach Verabredung mit ihrem Ehemann preisgegeben, der ihn dann, nach dem die Frau dem H. spielend ein Schürzenband um den Hals gelegt, in actu erdrosselt hat. Die Verhandlung dauerte vier Tage.
Viermal im Jahr verhandelte das Schwurgericht in Heiligenstadt anstehende Kriminalfälle wie diese Mordsache. Storm saß als einer von vier Beisitzern im Richterkollegium; ein Schreiber war dabei, dazu zwölf Geschworene, die über »Schuldig« oder »Nicht schuldig« nachzudenken und zu entscheiden hatten. Kreisgerichtsdirektor von Hentrich, ein Mann von hoher preußischer Pflichtauffassung, saß dem Schwurgericht vor. Anfangs stellt Storm ihm ein gutes Zeugnis aus: Der Director ist, wenn er auch kein Verständnis für meine Persönlichkeit hat, ein alter herzensguter Mann . Ein herzensguter Mann? Eher knallhart; denn der Mann zeigt Führungsstärke und hält seinen Laden in Ordnung. In Stellungnahmen zu Personalfragen ist er nicht zimperlich. Wittert der Kreisgerichtsdirektor in Storm, ähnlich wie der Landrat, den »Demokraten«? Er kommentiert auch den kränklichen Zustand , der Storm in den Urlaub nötigt und den Direktor zwingt, Ersatz für ihn zu schaffen. Er schüttet Häme über seinen Kreisrichter, der selbst im Sommer stets mit einem Chawl, Überzieher, zuweilen auch mit einer Decke gehen und großentheils von Milch leben muss . Klarer Fall: Der Direktor will Storm so schnell wie möglich loswerden: S o dürfte es wohl im Interesse des Dienstes und selbst des p Storm liegen, denselben in eine andere, den schwächlichen Naturen eine mehr zusagende Gegend zu versetzen . Im Kollegium ist Storm als Dichter ein Fremdkörper, als Richter ist er ein Paradiesvogel, den man mit Argusaugen mustert. Kein Wunder, dass es nicht zu freundschaftlichem Austausch kommt.
Die Sitzungen dauern von morgens um neun bis in den späten Abend und greifen damit Storms Gesundheit, seine Zeit für Dichten, Musizieren und Familie an. Er konnte sich, trotz der spannenden Fälle, die tragische Menschenschicksale ans Licht brachten, für das Geschworenen-Verfahren ebenso wenig erwärmen wie seine preußischen Richterkollegen. Der Grund: Der Richter konnte durch die Berufung der Geschworenen nicht mehr über die Schuldfrage entscheiden. Ihm war, so begriff er das Amt, ein entscheidendes Stück Autorität und Berufsehre genommen. Zudem gingen die langen Sitzungen, bedingt durch umständlich-langwierige Verhandlungen, den Richtern auf die Nerven, sie reagierten mit Überdruss und Enttäuschung. Storm schrieb schon in seiner Potsdamer Zeit während solcher Sitzungen Briefe nach Hause, sein alter Richterkollege Schnee protokolliert ihm aus so einer Sitzung: Da sitze ich nun und muß stundenlang hören, was ich schon lange weiß (…) Störmchen, Störmchen, es ist zum Verzweifeln .
Zum Verzweifeln ist andererseits der Fall der Witwe Rüdiger, er ist wahrhaftig auch nicht langweilig, er hält Storm in seinem Bann und ihm vor Augen den ersten Akt: Witwe Rüdiger stiftet das Tagelöhner-Ehepaar Semme an zu einer Mordtat: Der sechzigjährige Hoyer soll umgebracht werden, weil die Rüdiger ihm seinen Vermögensanteil missgönnt. Zweiter Akt: Das gedungene Mörder-Ehepaar lockt den Alten in die Beischlaf-Falle. Der Alte folgt seiner Lust, und während des Geschlechtsaktes legt die Beischläferin ihrem Beischläfer ein Band um den Hals, wie der Henker bei der Hinrichtung dem Todeskandidaten. Henkersgehilfe Ehemann greift zu und erdrosselt den armen Mann in actu .
Was wird aus
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