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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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Mörike, dessen schlechtes Gewissen ihn so kurios wie außergewöhnlich antworten lässt: Mein erster Eindruck war ein dumpfer Schreck, ein verworrener Schmerz, augenblicklich mit tausend bittern Gedanken versetzt die sich wider mich kehrten. Um die reine Empfindung der edelsten Trauer und deren Ausdruck Ihnen gegenüber sollte ich mich, so schien es, durch eine Reihe unbegreiflicher Versäumnisse ganz und gar selbst gebracht haben. Und doch kam es bald anders, es war etwas in mir das mich auf Ihre Güte hoffen ließ, nachdem dieß redliche Bekenntnis abgelegt wäre. Bester Mann, ich kann für dießmal nicht viel weiter sagen, allein ich komme sicherlich in nächster Zeit wieder . Mörike kommt nicht in nächster Zeit wieder, er kommt überhaupt nicht wieder und hüllt sich Storm gegenüber bis zuletzt in Schweigen.
    Zunächst legt man Constanze in einen Notsarg, Storm hält dabei ihren Kopf. Am 22. Mai bettet man sie um in einen herkömmlichen Sarg. Am Mittwoch, den 24. Mai tragen Mitglieder des Gesangvereins sie vor Tagesanbruch aus dem Haus in der Süderstraße. Flieder und Rotdorn stehen in voller Blüte. Zur Familiengruft auf dem St.-Jürgen-Friedhof gehen sie zehn Minuten; eine winzige Trauergemeinde marschiert im heraufdämmernden Frühsommermorgen. Bruder Aemil und die drei Söhne begleiten Storm. Neben ihm geht Hans, so schildert es Ingrid Bachér (*1930), eine Storm-Urenkelin, in ihrem dokumentarischen Roman über den Stormsohn Hans: Zur Beerdigung ging sein Vater allein mit ihm, auf ihn gestützt hinter dem Sarg her, der in die Familiengruft gebracht wurde, morgens früh um drei, als die Stadt noch schlief. Der Witwer trug einen weißen Hut und schrie zuweilen vor Schmerz, während der Junge ihn ruhig und verzweifelt hielt . Die Urenkelin wird das nicht erfunden haben; so wird es gewesen sein.
    Storm folgt seinem Eigensinn und seiner Überzeugung und stellt sich öffentlich gegen das bürgerlich Übliche. Ihn trägt sein aristokratischer Stolz und die familiäre Tradition: kein Pastor, keine Predigt, kein kirchliches Begräbnis, kein Gebet, kein Lied. So soll es sein, so ist es mit Constanze verabredet.
    Zu Hause habe Storm dann stundenlang Klavier gespielt, schreibt Gertrud. Musik ist ihm Trost wie die Poesie. Noch am selben Abend schreibt er das Gedicht »In der Gruft bei den alten Särgen«. Sieben weitere Trauergesänge auf Constanzes Tod folgen. »Tiefe Schatten« nennt Storm den Zyklus nach dem zuerst entstandenen Gedicht. Als Motto stellt er aber ein Liebesgedicht voran, das er für Constanze schrieb, als er 1853 auf dem Sprung ins preußische Exil war. Unvergessliche Verse, Zauberworte einer beschwörenden, alle Freiheit und allen Trost der Welt schenkenden Liebe:
    So komme, was da kommen mag!
So lang du lebest; ist es Tag;
Und geht es in die Welt hinaus,
Wo du mir bist, bin ich zu Haus.
Ich seh dein liebes Angesicht,
Ich sehe die Schatten der Zukunft nicht.
    Fontane hat Recht, wenn er später meint: Zehn Zeilen Storm wiegen den ganzen Jahresertrag aller jetzt regierenden lyrischen Machthaber auf . Man begreift, warum Fontanes Urteil über Storm so hin- und hergerissen ist. Storm war sechsunddreißig Jahre alt, als er dieses Gedicht schrieb. Das verschwisterte Gegenstück, das diesen Versen als Gegenentwurf wie ein Grund unter den Versfüßen liegt, ist ein Gedicht des zweiundzwanzigjährigen Goethe:
    Ob ich dich liebe, weiß ich nicht,
seh ich nur einmal dein Gesicht,
seh’ dir ins Auge nur einmal,
frei wird mein Herz von aller Qual,
Gott weiß, wie mir so wohl geschicht,
ob ich dich liebe, weiß ich nicht.
    Nicht nur die äußere Übereinstimmung der sechs Verse mit den vier Hebungen bezeugen ihre Verwandtschaft, auch die aus der Bewegungkraft der Liebe geborene Poesie erreicht in beiden Gedichten dasselbe Ziel, das Eingangstor zum Gebiet absoluter Freiheit, das aber ebenso Gefangenschaft bedeutet. Storm hat sich lebenslang auf dieses Ziel festgelegt und träumt vom Paradies hinter dem Ziel. Goethe aber baut einen Vorbehalt in die Verse; er will sich nicht festlegen und die Gefahr der Gefangenschaft vermeiden. Spielt der Altersunterschied der Dichter eine Rolle? Liegt hier der Liebe eine unterschiedliche Vorstellungswelt zugrunde? Storm und Goethe stehen auf einander gegenüberliegenden Polen. Auf den einzigartigen Trost durch einmalige Liebe, die Storm beschwört und dem Leser vermittelt, kann Goethe sich nicht einlassen; er hält sich mit der Kraft zweier Verse eine Tür offen und schielt

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