Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
quälen so allerlei Aspecten . Welche Aspecten ihn genau quälen, sagt er nicht. Es ist nur ein Gefühl, nichts Genaues und Bestimmtes in seinem hypochondrischen Kopf, dem schnell der Tod vor Augen steht. Dem Brief an Pietsch legt Storm das passende Gedicht bei, das er vor drei Tagen schrieb: »Beginn des Endes«.
1864 verleben Storm und Constanze mit ihren Kindern einige fröhliche Sommerwochen, schreibt Tochter Gertrud. Die Scherffs aus Altona sind mit ihnen zu Gast bei Bruder Johannes in Hademarschen, der dort einen Holzhandel betreibt und verheiratet ist mit Friederike (Rike) Jensen, der älteren Schwester von Doris Jensen, Storms alter Flamme. Fünfzehn Jahre sind seit der dramatisch-leidenschaftlichen Liebesgeschichte vergangen. Ist die Flamme immer noch nicht erloschen?
In einem späteren Brief an Sohn Hans – Constanze ruhte schon unter den Linden auf dem alten St. Jürgen-Friedhofe – beschwört und verklärt Storm das dortige Zusammensein mit Constanze. Von Doris Jensen erwähnt er nichts. Constanze aber scheint hier die Einladung ausgesprochen zu haben, von der Storm in einem Brief an seinen Freund Brinkmann schreibt: Im ersten Sommer nach unserer Rückkehr hatte C. sie zu uns eingeladen, um zu versuchen, ob sie bei uns leben könne. Aber eines Abends ging sie weinend auf ihr Zimmer, Constanze ihr nach. Da waren die beiden lange allein. Dann kam Constanze zu mir, und sagte mit ihrer schönen liebevollen Milde: »Es geht noch nicht; wir müssen Geduld haben.« So ging sie wieder . Diese Briefstelle hat zur Vermutung geführt, Storm habe mit Constanze und Doris eine Ménage à trois leben wollen, habe sie womöglich sogar gelebt. Das ist sehr unwahrscheinlich; die Persönlichkeit der beiden Frauen spricht dagegen; sie hätten das nicht gewollt.
All mein Glück begraben
Schwer wiegen jetzt Storms Sorgen um Constanze. Kaum ist sie von der schweren Krankheit genesen, kaum hat sie die Pockenschutzimpfung überstanden, kaum ist die schöne Zeit in Hademarschen gewesen, da ist sie wieder schwanger. Sorgen bereitet der begrenzte Raum im Haus in der Süderstraße. Ich weiß noch nicht, wie das werden soll, zumal im April etwa unser Siebentes in Aussicht steht, schreibt Storm an Pietsch, schildert dem Freund Constanzes miserables Aussehen , spricht von meinem eignen alten Weibe! Constanze ist neununddreißig Jahre alt, die Schönheit und Anmut ihres Wesens würden immer nur auf Augenblicke zur Entfaltung kommen, meint Storm.
Constanze fährt, zusammen mit ihrer Schwester und Schwägerin Lotte, im November 1864 von Husum nach Segeberg, um die Hochzeit ihrer Schwester Sophie zu feiern. »Phiete« hatte Storm vor sieben Jahren in Heiligenstadt so hilfreich bei der Arbeit an der Novelle »Auf dem Staatshof« zur Seite gestanden. Nun heiratet sie den fünf Jahre älteren Bruder von Doris Jensen, den Witwer Wilhelm Jensen, Holz- und Weinhändler in Neumünster.
Doris, Storms Amour fou im ersten Ehejahr, nimmt selbstverständlich an der Hochzeit ihres Bruders teil. Dass Storm nicht zusammen mit Constanze nach Segeberg fährt, könnte in seiner Furcht vor einem Wiedersehen mit Doris liegen. Zu sehr muss ihm die jüngste Begegnung in seinem Haus in den Knochen stecken. Obwohl Schwiegervater Esmarch seinen Schwiegersohn noch einmal namens der Familie extra bittet, bleibt Storm in Husum und schreibt: Lieber Vater, wenn auch Du selbst Dich ins Mittel gelegt hast, es geht nicht ; wir können nicht beide von Haus sein . Das ist mit dem Blick auf die zu versorgende Kinderschar nachvollziehbar. Der Mamsell, sie ist christlich, grämlich, einfältig und weise , und dem gerade eingestellten Kindermädchen mag der fürsorglich und ängstlich gestimmte Ehemann die sechs Kinder noch nicht allein überlassen, und seiner schwangeren Frau muss Erholung verschafft werden. Constanze wünscht das auch: Habt Ihr denn nachher auf ein paar Tage länger Raum für mich bei Euch, so möchte ich gern noch einige Tage länger bleiben; ein paar ganz ruhige Tage würden mir sehr wohl thun , fragt sie ihre Eltern. Schon im Mai schrieb sie: Wird denn nicht bald eine Eisenbahn nach Segeberg gebaut, daß man mal geschwinde zum Kaffee zueinander reisen kann?
Die Begegnung mit Doris Jensen in Segeberg kehrt bei Constanze eine andere Seite hervor als die von Storm an Brinkmann beschriebene. Da erscheint sie als starke Person, die das Schicksal in der Hand hält und gegenüber Doris als die Gewährende, Gebende auftritt. Davon spürt man nichts, wenn
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