Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Ordnung, daß ich noch in meinen Gesangverein ging, schreibt Storm seinem Schwiegervater. Am Tag nach der Geburt des Mädchens Gertrud steht Alles möglichst gut .
Gertrud ist die spätere Biographin ihres Vaters, sie erzählt im zweiten Band ihrer Storm-Biographie, wie Storms Mutter Lucie ihre Schwiegertochter Constanze am Wochenbett besucht und die jüngste Enkelin in einer braunen Korbwiege begutachtet: Guck mal hinein, es ist der Mühe wert , sagt Constanze.
Die Idylle verwandelt sich klammheimlich in einen Alptraum; denn die neu angestellte Aufwartefrau erscheint als Todesengel. Sie trägt das in Husum um sich greifende Kindbettfieber ins Haus, an dem eine junge Wöchnerin, die sie zuletzt gepflegt hatte, gestorben ist. Sie steckt Constanze an, Constanze ist verloren. Damals ist Kindbettfieber ebenso bekannt wie unheilbar. Mangelhafte Hygiene und Sauberkeit führen über Hautkontakt zur Infektion der Geburtswunden. Eine Blutvergiftung besiegelt das Leben der Wöchnerin.
Der mit Storm fast gleichaltrige österreichisch-ungarische Arzt Ignaz Philipp Semmelweis (1818–1865) hat die Ursache des Kindbettfiebers enträtselt und den Zusammenhang von Hygiene und Infektion benannt. Seine Erkenntnisse und Vorschriften gehören aber erst lange nach seinem Tod zum selbstverständlichen Berufswissen der Hebammen und Ärzte. Storms Bruder Aemil kennt Semmelweis wahrscheinlich nicht einmal vom Hörensagen. Oder etwa doch? Denn die bahnbrechende Erkenntnis wurde von den Ärzte-Kollegen bekämpft und lächerlich gemacht. So steht Aemil machtlos dem Krankheitsschicksal seiner Schwägerin gegenüber, und auch seine auswärtigen Kollegen, die Storm heranzieht, wissen kein Rezept.
Constanze, so berichtet Gertrud, weiß, dass sie sterben muss. Sie lässt sich von Theodor noch einmal ans Fenster tragen, sie will noch einmal die schöne Gotteswelt sehen . Der Mai zeigt seine schöne Seite, Drosseln singen. Sie geht dem Tod mit vollem Bewusstsein entgegen. Die vier ältesten Kinder mußten auf ihr Verlangen am letzten Abend zu ihr hereinkommen, schreibt Gertrud. Ergreifende Worte findet Storm in seinem Brief an Pietsch: Am letzten Nachmittag ließ ich die vier ältsten Kinder heraufkommen und bat sie, ihnen die Hand zu geben; sie tat es schwach und schweigend; nur als Ernst hereinkam und mit bebender und daher wohl ziemlich lauter Stimme sagte: »Guten Abend, Mutter!«, sagte sie vernehmlich: »Guten Abend« oder, wie er meint: »Gute Nacht, mein Kind, ich sterbe!« Nachher hat sie nicht viel mehr gesagt; der Körper kämpfte wohl nur mechanisch seinen Kampf zu Ende. Ihr Todesstöhnen war hart und dauerte lange, zuletzt aber wurde es sanft wie Bienengetön; dann plötzlich, ich kann nur sagen in vernichtender Schönheit, ging eine wunderbare Verklärung über ihr Gesicht; ein sanfter blauer Glanz wandelte flüchtig durch das gebrochene Auge, und dann war Friede, und ich hatte sie verloren . Das ist Sonnabend, am 20. Mai morgens um sechs Uhr, Storm hält ihre Hand. Sie ist ein Opfer unsrer Heimkehr. Storm denkt an seine Worte von Heiligenstadt, die er sprach, als das Schicksal ihn nach Husum zurückkehren lassen will: Wen von Euch soll ich dafür zum Opfer bringen. Das Schicksal, das ihm nun Constanze genommen hat, bestätigt ihn, und man könnte sagen: Er hat es vorhergesehen. Dennoch: Constanze ist nicht das Opfer der Heimkehr, sondern sie wurde ein Opfer des Kindbettfiebers.
Storm benachrichtigt sofort seine Schwiegereltern in Segeberg, Ludwig Pietsch bittet er, den Berliner Freunden die Nachricht zu überbringen: Ich kann diese fürchterlichen Briefe nicht hundertfach schreiben . Auch Paul Heyse in München und Hartmuth Brinkmann in Lütjenburg erhalten umgehend die Trauernachricht. In allem Schmerz verliert Storm nicht die Übersicht, hält das Heft auch jetzt in der Hand. Wichtig ist ihm dabei eine Botschaft, wie er sie typisch in seinem Brief an den in Stuttgart lebenden Eduard Mörike verkündet: Sie wissen ja, daß ich Ihren glücklichen Glauben nicht zu theilen vermag; Einsamkeit und das quälende Räthsel des Todes sind die beiden furchtbaren Dinge, mit denen ich jetzt den stillen unablässigen Kampf aufgenommen habe. Gleichwohl bin ich nicht der Mann, der leicht zu brechen ist; ich werde keines der geistigen Interessen, die mich bis jetzt begleitet haben und die zur Erhaltung meines Lebens gehören, fallen lassen; denn vor mir […] liegt Arbeit, Arbeit, Arbeit!
Jetzt erst, nach fast zehnjährigem Schweigen antwortet
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