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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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machte es möglich. Berufsphotographen warben für ihre Arbeit in allen Zeitungen und luden ein zur photographischen Sitzung, der Kunde kam und ließ sich »abnehmen«.
    Mit dem persönlichen Foto kann Storm seine Fäden leichter und nachhaltiger ins Leben spinnen, so auch die Bekanntschaft mit der Schriftstellerin Ada Christen aus Wien. Hier geht der Faden von ihm aus, nachdem ihr Gedichtband »Lieder einer Verlorenen« (1868) für Sensation und Aufregung gesorgt hat. Die Dichterin schreibt in einer für damaliges Publikumsverständnis ungewöhnlich freizügigen Sprache über Liebe, Begehren und Sexualität: Ich sehne mich nach wilden Küssen / Nach wollustheißen Fieberschauern / Ich will die Nacht am hellen Tag / Nicht schon in banger Qual durchtrauern , heißt es da. Heute locken solche Verse keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor; aber den Lesern von 1868 ging das unter die Haut. Darin ist Storms poetische Wirkung verwandt mit der von Ada Christen: Stärke, Mut und unerschütterliche Überzeugung, sich seine Gefühle nicht verbieten und beugen zu lassen, damit sie Sprache und Form haben können.
    Nun liest Storm eine Besprechung des Literaturkritikers Rudolf Gottschall (1823–1909) in den »Blättern für literarische Unterhaltung« (6. 5. 1869), und dessen Worte müssen für ihn wie Wespen in einem Wespennest gewesen sein, in das er hineingriff. Gottschall hatte sich schon 1853 über Storms »Immensee« abfällig geäußert, und später wird er Storms Lyrik als nur für den Nipp-Tisch passend bezeichnen. Storm spricht dann von »Wortschwall« statt »Gottschall«. Der also hat Ada Christen als »Dichterin im Bordell« bezeichnet und von den »Altären der Venus vulgivaga«, der »herumschweifenden Venus«, dem Freudenmädchen, gesprochen. Die Doppelbotschaft, die von den Namen Gottschall und Christen ausgeht, muss Storm alarmieren und erregen. Hinzu kommt ein anderer Grund: Er sucht gerade Gedichte für seine Sammlung »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Matthias Claudius«. Da packt er die Gelegenheit beim Schopfe und scheibt der Dichterin im September 1868 einen Brief. Verehrteste – wie soll ich Sie anreden: Frau oder: Fräulein? Ich kenne Sie nicht; ich weiß nicht, haben Sie Ihre »Lieder einer Verlorenen« mit Ihrem Herzblut oder nur mit dem Blute Ihrer Phantasie geschrieben; ich denke indeß, mit dem ersten rothen. Aber dieß kleine Buch läßt mich nicht los; ich muß es immer wieder in die Hand nehmen, diese Lieder einer – nicht Verlorenen.
    Storm trifft das Zauberwort und landet schon mit den ersten Sätzen in der Tiefe ihres Körpers: in ihrem rothen Blut. Er folgt seinem Bedürfnis, Nähe zu erzeugen und zu halten, und das hat oft zu tun mit Taktlosigkeit und Grenzverletzung. Eine dreiste Annäherung, die Abwehr erzeugen und schief gehen könnte. Man stutzt wieder einmal über sein von Zwang und Mangel gezeichnetes Verhalten.
    Auch im Falle Ada Christen setzt Storm auf Überwältigung, und seine »Erziehung durch Leidenschaft« schimmert auch hier durch. Wollen Sie mir persönlich etwas mehr über sich gönnen, so würden Sie mir bei dem herzlichen Antheil, den Ihre Lieder mir eingeflößt haben, eine große Freude machen; eine noch größere – verzeihen Sie, ich werde beim Schreiben immer unverschämter –, wenn Sie mir auch eine Photographie und – vielleicht gar einige noch ungedruckte weitere Gedichte beilegen würden.
    Das Husarenstück Annäherung und Überfall gelingt. Ada Christen schickt die Fotos, aber Storm hat sogleich etwas auszusetzen: Ich meine übrigens, Sie dürfen – verzeihen Sie, daß ich jetzt dem Friseur ins Amt falle! – nicht so eine schwere niedrige Frisur tragen; auch das Kleid nicht gar so hoch am Halse. Wenigstens beim Photographieren! Ein anderes Bild wäre mir daher sehr erwünscht . Die liebe Frau folgt brav und schickt ein Porträt, das Storms Wünschen entgegenkommt. Ein en-face-Bild mit betont erotischer Ausstrahlung, der Mund in sinnlich-vollen Lippen, die Haare hochgesteckt, von der Stirn über die Ohren zum Kinn, weiter bis zu den frei liegenden Schultern bietet Ada Christen nun ihre nackte Haut; Reste vom Kleid fallen nicht ins Gewicht.
    Jetzt ist Storm mehr als zufrieden, ja, er ist hingerissen und schreibt: Mit Ihrem Bilde haben Sie mir eine große Freude gemacht. Ich schau Ihnen oftmals durch die Lupe ins Gesicht, was bei Photographien zu einer merkwürdigen Belebung hilft . So wirkt auch hier, was er über einen besonderen Seelenzustand sagt, der

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