Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
[…] lässt Dir durch mich sagen, daß es ganz lächerlich wäre, wenn Du hier anderswo als bei ihm Quartier nähmst . Gute Aussichten und überwältigende Gastfreundschaft: Storm könne bleiben, so lange er wolle. Ruhe, Behaglichkeit und pünktliche Bedienung seien verbürgt, und auf die köstlichen Frühstücksstunden bei Deinem mundigen Tee, Roastbeef, Eier und Rotwein mit dem Geplauder mit Turgenjew könne er sich freuen. Storm hat in der Potsdamer Zeit zum ersten Mal von ihm gehört, als er den Deutsch-Russen und Übersetzer August von Viedert kennen lernte. Turgenjews »Aus dem Tagebuche eines Jägers« beeindruckte ihn tief.
Am 1. September besteigt Storm in Husum die Eisenbahn. Er hat Ruhe und Ordnung ins Familienleben gebracht, nun will er vier Wochen lang neue Fäden ins Leben spinnen . In Altona verbringt er die erste Nacht bei den Scherffs, am folgenden Tag geht die Reise von Harburg weiter nach Minden. Hier besucht er die Sängerin und Schriftstellerin Elise Polko und ihren Mann, einen Eisenbahnbetriebsdirektor. Mit der Polko verbindet Storm ein Briefwechsel, der schon 1863 in der Heiligenstädter Zeit begann und bis ein Jahr vor seinem Tod andauert. Sie hatte Storm geschrieben aus Begeisterung über die Novelle »Auf der Universität« und ein Foto mitgeschickt. Auf dem Bild findet Storm Gefallen an der Frau. Nach dem Bilde muß diese Schriftstellerin ausnahmsweise hübsch und elegant sein, schreibt er an Pietsch. Von Constanzes Tod hat er ihr geschrieben, sie antwortet so einfühlsam wie erschüttert.
Ob der Besuch bei ihr wohl ihrem Mann recht sei, fragt Storm vorsichtshalber an. Unsinn, liebster Freund, Sie kommen ebenso gut zu meinem Mann wie zu mir, antwortet die Polko selbstbewusst. Storm wohnt im Bahnhofshotel und verbringt im Hause Polko zwei Tage. Mit der Dichterin und Sangeskollegin scheint er sich gut verstanden zu haben. Obgleich sie wegen eines Herz- und leider auch Halsleidens eigentlich nicht singen darf, so sang sie mir doch einige Lieder, auch das Eichendorffsche »Lorelei« von Schumann, mit einer wahrhaft dämonischen Kraft, so daß ich bei mir selbst dachte, die singst du nicht nieder, schreibt Storm in einem Brief nach Hause.
Die beiden tauschen weiterhin Briefe aus, ein Wiedersehen gibt es nicht mehr. Fäden ins Leben spinnen – Das ist auch dieser Besuch bei Elise Polko, das sind auch die erotischen Signale, die Storm seinen Fäden anhängt.
Auch Storms Brief-Bekanntschaft mit zwei anderen Schriftstellerinnen, Ada Christen (1839–1901) und Hermione von Preuschen (1854–1918), beide wesentlich jünger als er, kommt erotisch verkleidet daher. Das liegt nicht nur an Storms gezielt gestimmter Phantasie, die sich gern eine Kindfrau malt, sondern auch an der Offenheit und am Zutrauen der Frauen, die seine Phantasie mit Futter beliefern.
Hermione von Preuschen, wie auch schon Elise von Polko, schreibt dem Dichter im Sommer 1873 zuerst, zunächst zusammen mit einer Freundin; sie ist neunzehn Jahre alt, und Storm antwortet mit Meine lieben jungen Freundinnen. Aber schon bald ist Hermione seine alleinige Briefpartnerin. Sie hat seine Briefe aufbewahrt, während von ihren Briefen nur drei erhalten sind. Als die Dreiundzwanzigjährige auf Wunsch des Sechzigjährigen zwei Photographien von sich schickt, antwortet er: Dies zweite ist das Bild eines Weibes, dem ich gern das Haar aus der Stirn streichen würde, um ihr zu sagen: »Hermine; ja, du hast ein Herz.« Dann fügt er im übernächsten Satz hinzu: Nehmen Sie dies für Poesie, liebe Freundin Hermine; aber es ist ein Unglück der Poeten, daß Herz und Phantasie so spät bei ihnen altern .
Storm war ein großer Freund der Photographie. Er zählte schon zu der Generation, die sich gern und regelmäßig von Photographen ablichten ließ und die Porträts an Freunde und Bekannte, Redaktionen und Leser verschickte. Neben dem persönlichen Wort lag ein persönliches Bild im Brief, damit konnte der Adressat sich den Absender besser vorstellen. Von Storms Vater liegt keine Aufnahme vor; er hat sich später, als das schon möglich gewesen wäre, auch nicht photographieren lassen. Von Eichendorff, ebenfalls eine Generation vor Storm, gibt es ein Foto aus dem Jahre 1854, dem Jahr, als Storm sein großes Vorbild in Berlin bei Kugler kennen lernte. Von Storm sind siebzehn verschiedene Aufnahmen bekannt. Er folgte damit entschieden einem Zug der Zeit. Die neue Bildtechnik, die schneller, preiswerter und genauer als jeder Zeichner arbeitete,
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