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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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1901 stirbt, ist von ihrem Anfangsruhm kaum etwas übrig. Einen Briefumschlag, der den Stormbriefen in der Wienbibliothek beiliegt, hat sie so beschrieben: Storm / Ein sehr großer Dichter / Mein sehr wahrer Freund / Den [sic] ich viel Dank schulde / Ein reines Herz!! – / Ein Mensch aus den [sic] vergangenen Jahrhundert .

Bravo, Herr Storm!
    Mittwoch, den 6. September sitzt Storm im Zug nach Baden-Baden. Als er Heidelberg passiert, hält er inne; er spinnt die Familiengeschichte: Vater Johann Casimir hat hier mit Schwiegervater Ernst studiert, die beiden besuchten den alten Johann Heinrich Voß, vor zehn Jahren ist Storm selber mit seinen Eltern hier gewesen, als er mit ihnen zu Mörike reiste.
    Baden-Baden liegt in spätsommerlicher, drückender Hitze. Storm kann die Gegend wegen der unerträglichen Sonnenglut nicht so recht genießen, erlebt sie aber nachhaltig, wird sie später in seiner Novelle »Ein Bekenntnis« wieder heraufbeschwören und dem Leser so nahe bringen, dass der meint, er selber stehe in unerträglicher Sonnenglut .
    Er trifft Pietsch, und Turgenjew begegnet er zum ersten Mal. Der, bei dem er zu Gast ist, sei etwas fremdartig und höchst liebenswürdig, einer der schönsten Männer, die er jemals gesehen habe, schreibt Storm später. Der russische Dichter aus reicher Gutsbesitzerfamilie gehört in den Kreis um die berühmte Pauline Viardot-García. Bis auf Monsieur Viardot sprechen alle fließendes Deutsch; Turgenjew schreibt es ebenso fließend. Umgangston ist französisch, und Turgenjew bittet seinen Gast, doch ein paar Brocken französisch zu sprechen, um Monsieur Viardot stil- und formgerecht zu huldigen. Kaum anzunehmen, dass Storm sich wohlfühlt in einer Gesellschaft, die so himmelweit anders ist als die in Husum oder Heiligenstadt. In seinem Familienbrief verwendet er Zeitgeist-Begriffe, die das Schickimicki von Baden-Baden und seine Schickeria kennzeichnen: Jeunesse Dorée, Pariser Demimonde, Souper , das alles klingt fremd in einem Stormbrief, und er vergleicht: Wie weit liegt das alles ab von unserem Tagewerk und glücklicherweise auch von den schönen und bedeutenden Menschen, unter denen ich hier lebe. Einerseits redet er Verklärung, andererseits stellt er sein Licht unter den Scheffel, ein Wesenszug, den man nur selten an ihm beobachtet.
    Mittelpunkt der Gesellschaft, in der er sich hier bewegt, ist die berühmte Sängerin, Komponistin und anerkannt größte Gesangsmeisterin der Welt . Turgenjew ist stets in ihrer Nähe, ob in Baden-Baden oder Paris, und gesagt wird, er habe sie lebenslang geliebt und nur deswegen nicht heiraten können, weil sie in glücklicher Ehe lebte, die, so sagt man auch, von George Sand gestiftet worden sein soll. Behauptet wird ebenfalls, die Viardot habe in einer Ménage à trois mit Turgenjew und ihrem Ehemann gelebt.
    Storm beschreibt die Sängerin, die sechs Sprachen spricht, in aller Ehrfurcht: Niemals habe ich eine Persönlichkeit gesehen, die mir als Mensch und Künstler zugleich einen solchen Eindruck gemacht hat. Er sitzt in ihrer Nähe bei einem Vormittagskonzert in der Villa Viardot und berichtet von der feinen Gesellschaft, die sich hier versammelt hat; er ruft die Erlauchten und Gnädigen auf, anscheinend ohne einen Gedanken an den Satz, den er einst seinen Eltern und auch Brinkmann schrieb: Adel wie die Kirche, das Gift in den Adern der Nation. Hier, in Baden-Baden, heißt es bei ihm: Nur Fürstinnen, Prinzessinnen und Freunde des Hauses waren geladen. Vorne saß eine feine, freundliche Frau; das war die Königin von Preußen.
    Ludwig Pietsch hat eine Zeichnung von diesem Konzert angefertigt, sie erzählt mehr. Nicht nur die erwähnten Damen des Adels sind anwesend, sondern auch die von Storm mehr oder weniger übersehenen Männer: Anton Rubinstein (1829–1894), der bedeutende Pianist und Komponist sitzt am Flügel, Hugo Heermann (1844–1935), der einundzwanzigjährige Violinist und spätere Lehrer am »Hoch’schen Konservatorium« in Frankfurt am Main, steht mit der Geige unterm Kinn und dem Bogen in der rechten Hand links neben dem Flügel, dann selbstverständlich Turgenjew, auch Monsieur Viardot und Storm und weitere Männer. Als Krönung des Ganzen sitzt rechts am Rande mit dem Rücken zur Wand Seine Majestät Wilhelm I., König von Preußen.
    Ist die gefeierte Sängerin eine schöne Frau? Das möchte man gern von Storm wissen. Er hat sich zu dieser Frage nicht geäußert. Ist er eingeschüchtert von der Autorität und Kunst dieser

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