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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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sich zwar des historischen Kerns dieser Erzählung und bleibt eng mit seiner Geschichte am Vorbild, doch erschafft er etwas Eigenes. Zufrieden ist er damit nicht, sein Selbstvertrauen ist angeschlagen, auch fehlt’s mir, daß, was jetzt noch entsteht, keinen Widerhall in Constanzes Herzen findet , es sind opera posthuma, schreibt er Pietsch. Er sieht zu schwarz, denn in dieser Novelle zeigt sich schon der Steckbrief unseres Husumer Dichters: der poetische Realist.
    Das Haus in der Wasserreihe ist groß und soll umgebaut werden, Handwerker gehen ein und aus, der Familienbetrieb muss laufen. Sechs Kinder zwischen drei und siebzehn sind im Haus, der Älteste mit neunzehn im Medizinstudium in Kiel, danach in Berlin, dann in Tübingen.
    Die Briefe, die Storm an seinen Ältesten schreibt, sind ein ebenso bewegendes wie fragwürdiges Zeugnis. Kaum einer, in dem nicht die Erinnerung an Constanze beschworen und dem Sohn aufgeladen wird. Weihnachtsstimmung ohne Constanze? Die will nicht aufkommen. Vielleicht wenn Du dagewesen wärst, mein geliebtes Kind, wäre mir heimischer gewesen. Ernst verfällt auch leicht in diese Stimmung. Mutter fehlt uns doch. Dann wäre alles zu ertragen gewesen, wenn sie mir nur geblieben, muss Hans lesen, nachdem er von Kiel nach Berlin gezogen ist und vielleicht denkt: Jetzt aber hat er doch Tante Do! Ein gutes Jahr später, als Onkel Lorenzen , Witwer der früh verstorbenen Storm-Schwester Helene, in der Familiengruft beigesetzt wird, schreibt Storm an Hans, der nun in Tübingen studiert: Als der Sarg an seine Stelle gekommen, stiegen Karl und ich in die Gruft; und ich habe mich auf Mutters Sarg denn noch einmal recht satt geweint .
    Seine väterliche Anteilnahme am Lebensschicksal seines Sohnes, die Sorge um sein Wohlergehen kommen aus seinem empfindsamen Herzen, sie sind echt, sie sind bewegend. Die Constanze-Beschwörungen, das eigene Leid und die Trauer über ihren Verlust lässt er allerdings ungefiltert an seinen Sohn heran. Der Vater benutzt den Sohn zur Entsorgung für eigene Seelen-Altlasten. Der Sohn reagiert mit innerer Abwehr und weicht mit seinen schwachen seelischen und körperlichen Kräften aus, im eigenen Leben und wohl auch in den (nicht erhaltenen) Briefen an seinen Vater. Der aber, der mit seiner Poetenseele »das Gras wachsen hört«, wird zwischen den Zeilen lesen und auch das wird zur Stimmung beitragen und sich niederschlagen in der Stimmung des Husumer Familienlebens; sie findet vor allem ein Opfer: Doris.
    Verblühte Blondine? Auch wenn Storm seiner Frau das nicht ins Gesicht gesagt haben sollte, sie muss es gespürt haben. Sein »Hehle nimmer mit der Wahrheit« und seine geschätzte »goldene Rücksichtslosigkeit« haben für den Dichter auch eine Kehrseite: Taktlosigkeit und Schärfe. Doris kann ihm alles geben, nur eines nicht: Die Jugend von damals, die Storm herbeisehnt, denn seine Wünsche schlafen auch nicht; ich möchte leben – leben; ja der thörichte Wunsch kommt: wären wir doch jung; wir beide, ich und Du! Ich möchte noch einmal mit Dir aus der ganzen unermeßlichen Fülle des Lebens schöpfen, die nur die Jugend hat . Aus dem unterstrichenen »Du« darf geschlossen werden: Vor allem Doris möge jung sein, möglichst das Mädchen von damals. Das ist für die verblühte Blondine ein furchterregender Satz. Wir sollten
keine zweite Frau heiraten, die uns mit der ganzen Hingebung des Herzens liebt. – Ich habe das ja nicht mehr für sie, schreibt Storm an Pietsch. Das wird Doris gespürt haben, und ihr bleibt sein weihevoller Umgang mit der Toten nicht verborgen. Ihr Bild schmückt er mit einem von Bruder Otto geschickten Kranz. An Turgenjew notiert er ein halbes Jahr nach seiner Wiederverheiratung mit Blick auf Constanze: Ich lebe trotz allem in einer untergegangenen Welt, in vergeblicher Sehnsucht nach ihr, die in ihrer sonnigen Klarheit, in ihrer großartigen Simplicität doch einen Kopf größer war, als fast alle Weiber, die mir je begegnet .
    Doris ist zart besaitet und verfügt nicht über die Seelenkraft einer Constanze, sie kann nicht alle Fünf gerade sein lassen, wie Constanze es konnte. Sie tritt ein schweres Erbe an, sie bricht unter dieser Last zusammen. Storm benennt ihr Leid in einem Brief an Brinkmann. Meine kleine Do leidet seit über Jahr und Tag an Tiefsinn, sie ist gemüthskrank . Er, Storm, sei ihr mit unglaublicher Geduld und Milde begegnet. Doris erlebt zudem die ersten Wochen einer Schwangerschaft und muss gegen Übelkeit und

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