Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Erbrechen kämpfen. Ein seltsames Gefühl für mich, ein Kind zu erwarten, dessen Mutter nicht Constanze ist. – Indeß ist es vielleicht zum Segen. Die fixe Idee bei ihr ist, daß sie den vielen Pflichten der Hauswirthschaft nicht genügen kann. »Es ist mir so confus.« Stundenlang habe ich sie im Arm und hätschle sie u. spreche ihr zu wie einem kleinen Kinde. Wird sie genesen? Zu meiner Freude kann ich hinzusetzen, daß sie fast immer heiter ist und daß wir jetzt wirklich ein recht freundliches Familienleben haben, schreibt Storm seinem Hans im Juli. An Pietsch geht aber im September noch dieser Satz: Die arme Frau quält sich leider noch in dieser letzten Zeit so mit Erbrechen etc. Am 4. November wird mit Bruder Aemils und seiner Geburtszange Hilfe Storms fünfte Tochter geboren. Doris möchte sie Constanze nennen, aber Storm ist dagegen: Ich habe ihr aber gesagt, daß dieser Name für mich nur eine Bedeutung haben könne und solle ; und so sind wir denn übereingekommen: die Kleine nach Do ihrer guten verstorbnen Mutter, mit der wie ihrem auch heimgegangenen Vater ich immer in dem herzlichsten Verhältnis gestanden – mit dem Sesenheimer Namen Friederike zu taufen .
Dass Storm seine Friederike nach der Sesenheimer Pfarrerstochter nennt, für die der junge Goethe schwärmte, zeigt seine Nähe zum großen Dichter, dessen »Faust« für ihn die bedeutendste Goethe-Lyrik enthielt. Dass er aber in einem Brief an Hans seine Jüngste mit unsre kleine süße »Mißgeburt« bezeichnet , will dazu auf den ersten Blick nicht recht passen. Wie viel Ironie oder Humor stecken drin? Wie viel Abwehr und Verstörung?
Im Poetenstübchen oder als wir jüngst in Regensburg waren
Gerade noch rechtzeitig vor Friederikes Geburt Anfang November 1868 wird der Umbau fertig. Die Kosten von zweitausend Mark sollen durch Vermietung gemildert werden. Im Erdgeschoss ist darum der Deichaufseher Trede mit seiner jungen Frau für vierhundert Mark Jahresmiete eingezogen. Es geht sehr nett , schreibt Storm seinem Bruder Otto. Oben bewohnen die Storms sieben nette Stuben u. Küche u. Mädchenkammer .
Für den Dichter fällt nach dem Umbau im ersten Stock das »Poetenstübchen« ab. Auf längere Sicht stärkt es die Poetenkraft: Hier entstehen sechzehn Novellen und die »Zerstreuten Kapitel«, hier dichtet er die zehn »neuen Fiedel-Lieder«, hier schreibt er seine Briefe. Schon ein paar Tage nach seinem Einzug berichtet er Ludwig Pietsch aus der neuen Umgebung: Ich sitze seit einigen Tagen in meinem neuen Zimmer; geschnitzte Holzdecke; eichener Bücher-Wandschrank, rote Bilder-bedeckte Wand; sehr traulich; ich glaub, es wird dir gefallen .
Doch das Dichten will nicht recht beginnen. Der Dichter scheint tatsächlich »gesanglos und beklommen«. Er sieht sich aber in der Dichter-Pflicht. Gedanken treiben ihn, dringend wollen sie aufgeschrieben und gerettet sein. Will das nicht so gelingen, wie jetzt, dann steht er wie am Abgrund und sieht wieder einmal sein Dichter-Dasein für immer beendet. Auf die letzten beiden Novellen blickt er mit tiefen Zweifeln zurück. An Paul Heyse ergeht für die »Malerarbeit« die Bitte lesen Sie‘s lieber nicht . Der aber ist anderer Meinung und nimmt sie 1872 in seinen »Deutschen Novellenschatz« auf.
Aus der geliebten Behaglichkeit des Poetenstübchens kann Storm Ende 1868 zufrieden auf das vergangene Jahr blicken: Hausumbau fertig, Tochter Friederike gesund auf der Welt, und »Tante Do« hat nach der Geburt ihres ersten und einzigen Kindes Friederike, die bei den Storms »Tute« heißt, ein paar Fieberwochen überwunden und scheint ihren »Tiefsinn« abgelegt zu haben. Bei Westermann ist die erste Gesamtausgabe erschienen; tausend Reichstaler Honorar wurden vereinbart. Die sechs Bände sind die ganze kleine Erndte meines Lebens und ein ideales Weihnachtsgeschenk.
Die Söhne Ernst und Hans haben acht Wochen im Luftkurort Lippspringe verbracht, um ihre schwachen Lungen zu stärken, das hat Storms Haushaltskasse belastet, und er fordert von seinen Söhnen, trotz der Westermann-Einkünfte durch »Sämmtliche Schriften«, Sparsamkeit und gesunden Lebenswandel. An der Gesundheit soll aber nicht gespart werden, und wenn unser letzter Heller drauf gehen sollte . Auch verordnet Vater Storm aus der Ferne, um nicht die Nähe zu verlieren: Vergiß nicht, Dir einen Respirator [Atmungsgerät] zu kaufen (mit Roßhaargeflecht) und schreib mir, daß Du es gethan .
Hans scheint überm Berg, der Arzt in Lippspringe hat
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