Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
der trefflichen Urgroßmutter Feddersen, die er so sehr verehrt hatte und neben der er ruhen wollte .
Was ihn besonders auszeichnete, waren seine Tüchtigkeit im Advokatenberuf, sein Geschäftssinn und sein Fleiß. Er stand deswegen nicht nur bei seinen Kollegen, sondern auch bei den Husumer Bürgern in hohem Ansehen. Vor einem Jahr hatte er noch sein sechzigjähriges Dienstjubiläum gefeiert; der Staat Preußen verlieh ihm den roten Adlerorden 3. Klasse. Was wäre aus Sohn Theodor geworden, hätte der Vater ihn nicht immer wieder liebevoll und fürsorglich unterstützt? Storms Biographie würde sich wohl anders darstellen.
Theodor Storm, ein Meister des Überlebens? Die Dauersorge um das fehlende Geld ist die Sorge um den Verlust des Ranges, den vor allem auch die Söhne einnehmen sollen. Storm ist aus einem anderen, weicheren Holz geschnitzt als sein Vater und mit dem Erbe einer problematischen Künstlernatur bedacht. Die steht in Nebenbuhlerschaft zum gesellschaftlichen Ehrgeiz. Kaum vorstellbar, dass seine abwegigen Vorstellungen von Liebe und Ehe, Erziehung und Familie allein im Aristokratie- und Kunstverständnis gründen und sich aus ihren wetteifernden Ansprüchen erklären lassen. Hier wirken auch andere als künstlerische und gesellschaftliche Kräfte: Storms Unfähigkeit, ihm nahe stehende Menschen loszulassen, seine Ich-Sucht, seine Heidenangst vor einem Allein auf der Welt, in dem nur er selber wäre, allein Auge in Auge mit dem quälenden Räthsel des Todes. Dieses Rätsel starrt ihn auch aus seinen tatsächlichen und eingebildeten Krankheiten an und reizt die Nerven. Hinter alledem steht allein diese Frage: Wie hältst’s du mit der Liebe und was richtet die Liebe mit dir an?
Die Quelle, die dem Künstler Storm am stärksten sprudelt, kommt aus dem leidenden, hilfsbedürftigen Teil seiner Biographie; hier, in der ihn plagenden Auffassung von Liebe liegt der Treibstoff für seine Kunst. In seinem Werk findet das Lebensleid seinen Ausdruck als Liebesleid, das sich als Erzählung in der Unfreiheit einer zwanghaften Vorstellungswelt entwickelt. Es wird in Stormsche Seelengrammatik gefasst und muss sich darin einem eigentümlichen Benimm, einer Art Dichter-Knigge unterwerfen, der das Bezaubernde, aber auch das Nervige der Stormschen Poesie ausmacht.
Mit seiner Novelle »Viola Tricolor« verstimmt er Doris und die Kinder, allen voran Hans, den Ältesten. Als wenn er sein Lebensleid sammelte, um es stets bei sich zu haben und nicht mehr loszulassen. Es fließt ein in seine Poesie, auch in seine Briefe, die oft mehr poetisieren als von der lebendigen Wirklichkeit erzählen. Seine überlegene stilistische und rhetorische Begabung walzt Probleme nieder oder will von ihnen nichts wissen, oder sie beschönigt nur; heraus kommt für die Kinder eine verwirrende, stark Vater-bezogene Erziehungs-Poesie, die bettelt und mahnt, siegt und kapituliert, verzeiht und fordert, gibt und nimmt, lobt und tadelt, unterm Strich aber ähnlich absoluten Gehorsam fordert wie Rudolf von Ines in der Novelle »Viola Tricolor« und Richard von Franzi in »Waldwinkel«. So greift die Novelle ins Leben und das Leben in die Novelle.
Zurückhaltung und Verschwiegenheit sind ihm zwei Unbekannte. Rücksichtslose Offenheit zur eigenen Entlastung ist ihm immer aktuelles Bedürfnis. Belastung für das Kind ist die logische Folge. Wunschdenken und Wirklichkeit mischt er durcheinander, damit erzeugt er die Selbsttäuschung, so landet er in der Beruhigung und in einer unglaubwürdigen Vaterautorität. Bei aller Liebe, Storm liebt sich mehr als seinen Nächsten: Nie einsam und allein sein, immer den gesellschaftlich gehobenen Rang behaupten. Das sind seine Leitgedanken für das eigene Überleben.
Über die Heide
Im Februar 1875 stirbt Ernst Esmarch, Storm reist nach Segeberg, um den achtzig Jahre alt gewordenen Schwiegervater und Onkel zu begraben. Der war von ähnlichem Schrot und Korn und vom gleichen fürsorglichen Denken beseelt wie sein alter Freund Johann Casimir. Zwei wichtige Stützen sind aus Storms Leben verschwunden. Constanze ist vor zehn Jahren gestorben. Du kannst nicht glauben , schreibt Storm an Pietsch, wie entseelt mir die kleine Stadt vorkam, die in jungen Tagen alle Freuden des Lebens für mich enthielt. Der Wind der Vergänglichkeit strich scharf über mich hin . Hier und jetzt schreibt Storm sein Gedicht »Über die Heide«.
Über die Heide hallet mein Schritt;
Dumpf aus der Erde wandert es mit.
Herbst ist gekommen,
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