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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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Frühling ist weit –
Gab es denn einmal selige Zeit?
    Brauende Nebel geisten umher,
Schwarz ist das Kraut und der Himmel so leer
    Wär‘ ich hier nur nicht gegangen im Mai!
Leben und Liebe – wie flog es vorbei!
    Zwei poetisch starke Strophen, die Strophen eins und drei, zwei schwache, die Strophen zwei und vier. Die Schwachstellen des Gedichtes liegen im Abgeschmackten und im Klischee, die Storm hier reden lässt. Herbst ist gekommen, Frühling ist weit – Gab es denn einmal selige Zeit? Das sind platt gewalzte Allgemeinplätze, nicht viel mehr als rührselige Briefpoesie. So spricht auch die letzte Strophe, dazu mit dieser Ungereimtheit: Leben und Liebe – wie flog es vorbei!
    Wie anders dagegen werden die erste und die dritte Strophe von starker Poesie getragen, weil ihre Verse das Stormsche Allein in der Welt auf unverwechselbare Weise beschwören. Allein in der Welt heißt hier: Der Dichter allein mit seiner Poesie, allein wie der Hirtenknabe mit dem schönen Mädchen zu seinen Füßen, ein Bild, das der Ich-Erzähler in der Novelle »Auf der Universität« als paradiesischen Fluchtort erinnert. Dort sammelt sich alle Konzentration, kein Blick nach links oder rechts, keiner nach unten oder oben. Die Verse tragen alle Last allein. Da liegt der Grund ihrer Poesie, das macht ihre Stärke und Schönheit aus.
    Johannes Brahms, der als Norddeutscher die Heide ähnlich wie Storm spürt, sieht und riecht, hat die vier Strophen vertont (op. 86 Nr. 4). Die dumpf hallenden Schritte ertönen aus einem tiefen, in Oktaven schreitenden Bass, dunkle g-moll Klänge begleiten ihn. Stellt man sich beim Lesen des Gedichts eher einen Ich-Erzähler vor, der langsam und gemessenen Schrittes über die Heide wandert und dem Echo seiner Schritte lauscht, so setzt Brahms einen anderen Akzent. Seine Musik lässt den Wanderer auf seltsame Weise vorwärts gehen, in einer Mischung aus Beschleunigung und Verzögerung kommt er daher. Bis hinein in die Strecke des letzten Verses muss der Wanderer-Sänger sich in einem stark synkopierten Notenfeld zurechtfinden. Risse und Löcher, Trichter und Krater, wie man sie auf der Geest in der Heide findet, zwingen ihn, achtzugeben und hier und da innezuhalten, um über kleine und große Abgründe zu springen. Wer über die Heide geht, der darf nicht lange verschnaufen, muss entschlossen weitergehen.
    Wann lässt der Dichter eigentlich mal die Seele baumeln? Wann hält er Mußestunde, um Abstand von Dingen und Menschen zu gewinnen? Ruhelos wickelt er sein Familien- und Arbeitsprogramm ab, stets liegt die Feder griffbereit für die poetische Arbeit oder für das Briefeschreiben. Übungsabende des Gesangvereins versäumt er nicht. Auch Feiern und Festlichkeit werden gebraucht, um ja nicht zur Ruhe zu kommen und in Seelenfrieden zu fallen. Storm – ein Workaholic.
    Seine Freundschaften lässt er nicht verderben. Ausführlich bespricht er in seinem Briefwechsel mit Paul Heyse Herausgeber- und Honorarangelegenheiten. Bei Hans Speckter holt er fachmännischen Rat für seine Künstlernovelle »Psyche« und lässt sich den Unterschied von Gips und Ton erklären. Seine Freunde hören der laufenden Familiengeschichte zu, er schüttet sein Herz aus, sei es im Glück oder im Unglück. Da ist immer noch der alte Freund, Amtsrichter Brinkmann, der mit seiner Frau Laura und sechs Kindern in Flensburg wohnt. Pfingsten 1875 besucht das Ehepaar Storm dort die Familie. Auch hier ist der Dichter ohne Rast und Ruh‘: Eine Wohnung wird gemietet für Ernst, der hier seine juristische Ausbildung am Kreisgericht fortsetzen soll. Seine Tochter Lisbeth lebt hier ebenfalls, die beiden werden sich sehen können und das Gartenlokal »Marienhölzung« besuchen. Die Gaststätte ist auch heute noch ein Ausflugsziel.
    Während eines Spazierganges im Kollunder Wald kommt Storm die Idee zu seiner Novelle »Im Nachbarhause links«; sie wird schon im kommenden Oktober in »Westermann‘s Illustrierte Deutsche Monatsheften« erscheinen, und Storm darf ein Voraushonorar von 675 Mark einkassieren. Damit setzt er Flensburg ein Denkmal: Ich glaube, daß es im Frühling kaum einen schöneren, erquickenderen Anblick gibt als diesen blauen Meerbusen mit seinen hügeligen, buchengrün-bekränzten, sich weithin dehnenden Ufern.
    Brinkmann steckt hier in der Rolle des Erzählers, allerdings nur unvollständig, denn der Erzähler hat viel mehr von Storm als vom alten Freund, dem er wohl ebenfalls ein Denkmal setzen wollte. Auch Brinkmanns Tochter

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