Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
aller Enttäuschungen und Rückschläge, die Storm auch bei ihm schon hat hinnehmen müssen. Bald spricht er von ihm als von seinem »Alter Ego«. Das ist Ernst aber nicht, wie Storm glaubt: Mein Sohn, der Referendar, der seines Vaters schärfster Kritiker ist, urteilt er zwei Jahre später. Ernst ist nicht eine kritisch-bessernde Größe, sondern er versteht seinem Vater besser nach dem Mund zu reden als Hans und Karl. Ernst achtet auf die literarische Arbeit seines Vaters, was dem die Seele streichelt. Widerspruch kommt bei Storm nicht gut an. Als Ernst wagt, die »Neuen Fiedel-Lieder« zu kritisieren, reagiert er in einer für ihn typischen Mischung, beleidigt und mit Schein-Mitgefühl: Dein Urtheil über die letzteren ist wohl nur aus der liebevollen Sorge hervorgegangen, Dein Vater könnte seinen wohlverdienten Ruhm noch im Alter aufs Spiel setzen. Denn kokett und gemacht sind sie nicht; sie könnten ja auch sonst nicht, wie Du doch selbst sagst, frisch sein. Da schießt Storm mit Kanonen auf Spatzen, das kriegt Ernst zu spüren, und er geht fortan lieber den Weg des geringsten Widerstandes.
Im Frühjahr 1873 kommen schlechte Nachrichten ins Haus. Hans droht nun völlig zu verlottern. Storm nimmt sich Ernst als Begleitung und fährt umgehend nach Kiel, um die Lage aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen. Ernst berichtet seinem Bruder Karl über diese Stippvisite. Hans habe enorme Schulden, er lebe in schlechter Gesellschaft, dabei säuft und hurt er, schreibt er dem jüngeren Bruder nach Leipzig. Auch Hans hat sich wahrscheinlich mit Syphilis angesteckt. Noch weiß man das nicht so genau; aber Storm befürchtet das Schlimmste; er gefährdet den Ruf der Familie und braucht zusätzliches Geld für Behandlung und Krankenhaus.
Storms Angst vor Trunksucht und Geschlechtskrankheiten ist nur allzu berechtigt. Ein Großonkel und dessen Sohn haben sich zu Tode getrunken, Storms Bruder Otto und Constanzes ältester Bruder Ernst sind als Syphilis-Leidende warnende Beispiele. Storm, der mit wenig Hoffnung aus Kiel zurückgekehrt ist, schreibt an Karl nach Leipzig: Hier sitze ich nun, krank und hoffnungslos und weiß mir auch Deinetwegen nicht zu helfen.
Er weiß ein Mittel; denn er verlangt, dass Karl ihm monatlich Bericht erstattet zum Thema: Fleiß, Erfolg und Pünktlichkeit und greift am Ende wieder einmal zur schweren Waffe, der Erpressung: Du aber bedenke, daß es genug ist, an einem ungerathenen Sohn zu Grunde zu gehen; daß es aber jetzt keine schönere Aufgabe für meine beiden andern Söhne gibt, als durch strengste Pflichterfüllung und tüchtige Fortschritte wieder ein wenig Freude in mein fast nur aus einer Kette von Kummer und Leid bestehendes Leben zu bringen.
Es sieht indes nach einem gemeinsamen Vorgehen von Vater Storm und Sohn Ernst aus, denn der schreibt Karl ebenfalls am 28. März und teilt ihm mit, was auch schon der Vater mitgeteilt hat. Ernst schreibt auch hier im Stil des Erziehungsgehilfen und schlägt in Vaters Kerbe: Karl möge dem Vater nun endlich seine Schulden beichten. Er malt, ganz im Sinne Storms, ein düsteres Bild von der Familie und ein noch düstereres vom kommenden Schicksal des Vaters. Er ruft den Fachmann Onkel Dr. Aemil Storm als Zeugen auf, daß Vater, wenn ihn mehr solcher Kummer trifft, nicht mehr lange leben kann – im günstigen Falle – also wenn er noch etwas Freude erlebt – mein[t] Onkel hat Vater noch ein paar Jahre zu leben habe.
Ernst ist in mancher Beziehung das Abbild seines Vaters. Vor allem hat er das überängstlich-hypochondrische Naturell zu tragen. Er schreibt Briefe mit dessen rhetorischem und stilistischem Geschick, beherrscht seinen neunmalklugen Erzieherton und kann sich auch selber anklagen.
Storm selber hätte diese Zeilen nicht besser schreiben können. Ernst hat den Stil seines Vaters in der Feder, er ruft den Bruder zur Ordnung, indem er Vaters Jammer beschwört, ganz wie Storm selber, der nie vergisst, den eigenen Tod an die Wand zu malen und die Verantwortung dafür den Söhnen zuzuschieben. Bei Ernst hört man den norddeutschen »Schnacker« heraus; der redet mehr, als er zu sagen hat, um damit sein geringes Selbstbewusstsein zu verbergen. Nichtsdestoweniger zeigt der empfindsame, ängstliche Ernst echte Anteilnahme und Sorge. Inzwischen hat er als braver Mitarbeiter der Stormschen Erziehungswirtschaft dem Vater Karls Schulden gemeldet.
Noch zum Sommersemester 1873 zieht Ernst nach Kiel, mietet nach Storms genauen Anweisungen eine
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