Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
nicht später in unrechte Hände fällt . Zwölf Tage später legt Storm noch einmal nach: Hüte Dich vor dergleichen, mein Junge! Onkel O. [Otto] in Hlgst [Heiligenstadt]hat es auch gehabt; jetzt wird sein ältester Sohn von Ausschlag befallen; und ich fürchte sehr einen inneren Zusammenhang. Es ist bei dieser Krankheit für das ganze künftige Leben eine Furcht; die Jugendblüthe ist mit ihr zerstört. Onkel Aemil sagte damals: Wär ich O., ich würde mir eine Kugel vor den Kopf schießen.
Im Sommer 1875 verbringt Karl seine Ferien in Husum. Er wagt eine Beichte und sagt seinem Vater, er spüre beim Wasserlassen Schmerzen und seine Harnröhre sondere eine Flüssigkeit ab. Das sind Anzeichen wie bei einem Tripper. Onkel Aemil, der Doktor, wird eingeschaltet; der behandelt ihn. Die Sache muss beschwiegen werden. Aber lässt sie sich im Haus geheimhalten, wenn Schwestern und Dienstmädchen in unmittelbarer Nähe sind und Freunde und Bekannte ein- und ausgehen? Storm und sein Bruder müssen doch ein paar Worte wechseln, die nicht mitgehört werden dürfen. Karl nimmt Sitzbäder, trinkt Rotwein statt Bier, isst rotes Fleisch statt Brot. Was denken, sagen und fragen die Schwestern? Die Kur scheint zu wirken, Schmerzen und Symptome sind verschwunden. Karl fährt zurück nach Stuttgart. Im Spätsommer 1875 fühlt er sich wieder krank, er bleibt in seiner Wohnung und im Bett. Er verliert seine Stimme.
Gut möglich, dass Karl zugleich mit Tripper und Syphilis infiziert ist. Der Stimmverlust deutet auf ein fortgeschrittenes Stadium der Syphilis-Erkrankung hin. Ein rother Ausschlag stellt sich ein. Endlich rückt Karl bei einem Arztbesuch mit der Wahrheit heraus und schreibt: Ich erzählte ihm also, daß ich schon mal einen Fr gehabt (…). Wenn ich doch nie in Leipzig gewesen wäre .
Karl schreibt den »Französischen« nur schamvoll abgekürzt als »Fr«. Noch gibt es keine Heilung, erst 1909 entwickelt Paul Ehrlich das erste wirksame Mittel: Salvarsan. Hoffnung schöpft Karl, als der Arzt ihm sagt, der Ausschlag komme höchstwahrscheinlich von einer rothen Decke, die ihm als Bettdecke dient; eine trügerische Entwarnung. Auch der Gesangslehrer Professor Koch hat offenbar gute Nachrichten: Trotz der jetzt schon erlittenen Stimmprobleme sagt er seinem Schüler eine vielversprechende Zukunft als Sänger voraus. Dann hüllt sich Karl in Schweigen. Storm ist hin- und hergerissen zwischen Ungeduld in Erwartung eines Briefes und Beruhigung, indem er ausblendet, was er nicht sehen möchte.
Die Angst, Krankheiten könnten durch Vererbung in den Familien von Generation zu Generation weitergegeben werden, hängt wie ein Damoklesschwert über Storm. Erleichterung in dieser schlimmen Zeit bringt am 27. März 1874 eine telegraphische Nachricht aus Kiel: Ernst hat seine erste juristische Prüfung bestanden. Das ist schon mal die Hälfte des Weges zum Rechtsanwalt und Richteramt. Auch der Abdruck der Novelle »Pole Poppenspäler« in der Zeitschrift »Deutsche Jugend« und das Honorar von 247 Mark hellen die Stimmung auf. Und Storms Zugpferd »Immensee« erscheint in der 18. Auflage, erwirtschaftet noch einmal 50 Mark. Die Freundschaft mit Hans Speckter, gleichaltrig mit seinem Ältesten, in den er ähnlich hineinsieht wie in den »Ersatzsohn« Ferdinand Tönnies, bringt Lebensgewinn. Gespräche mit ihm über die Bebilderung der zweiten Auflage des »Hausbuchs aus deutschen Dichtern seit Claudius« bringen Unterhaltung und Orientierung und bieten die Möglichkeit, dem jungen Mann in seine Zeichenkunst hineinzureden und ihn auch sonst zu dirigieren.
Wie schön wäre doch, wenn Johann Casimir das noch erleben könnte: Hans kommt mit seinem Doktortitel nach Hause. Der diesbezügliche Betreff sagt das Gegenteil: Hans ist in Kiel durch alle Prüfungen gefallen. Storm reagiert wie aus dem Alten Testament und mit dem schwersten Geschütz der Erpressung: Du mußt jetzt in der That für Deine Sünden büßen (…) Ich wüßte nicht, was aus mir werden sollte, wenn Du noch einmal rückfällig werden würdest. Es ist gewiß, daß Du mein Leben in Deiner Hand hast . Sein schwerkranker Sohn verlässt Kiel mit hängenden Flügeln und geht wieder nach Würzburg, weil er glaubt, dort würde ihm das Examen leichter gemacht.
Storm arbeitet noch an seiner Novelle »Im Nachbarhause links«, als ihn im Sommer 1875 diese Nachricht aus Würzburg erreicht: Hans wieder durchgefallen. Jetzt leistet er dort sein Militärjahr ab, und Storm scheint das zu
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