Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Spiel? Das wäre nicht verwunderlich; er hat einen Saufbruder, Hans‘ Freund Dr. Duus. Dann wirft ihn eine Lungenentzündung aufs Krankenlager. Ihn plagt hypochondrischer Wahn, er fürchtet ein »Rückenmarksleiden«. Die Angst, er könnte sich mit Syphilis angesteckt haben, das Todesurteil sei gesprochen und er müsse nun sterben, verfolgt ihn. Storm beruhigt den Sohn, und die Beruhigungsspritze enthält einen Schuss Ironie, da deine Todeskandidatschaft doch keineswegs eine völlig ausgemachte ist .
An seinem Jüngsten findet Storm echtes Wohlgefallen. Der kann sich als bestallter Musiklehrer in Varel mit seinem selbstverdienten Geld Jacke und Hose, Hemd und Strümpfe kaufen; der Junge hat sogar ein paar Mark zurückgelegt.
Nun strammen Schrittes weiter
Storm hat sein Elternhaus stets gepriesen und poetisch verklärt, Vater und Mutter in der Hohlen Gasse bedeuteten ihm Heimat in Husum. Mit Lucies Tod verfällt sie zu einem Nichts. Das Elternhaus kommt für ihn als Alterswohnsitz nicht in Frage. Er fürchtet das Gespenst der Vergänglichkeit, er meint, dass er nach seiner Pensionierung mit dem verminderten Einkommen in Husum nicht leben kann. Sein Haus in der Wasserreihe verkauft er im Oktober 1879 für 13 000 Mark an den Lehrer Bandholt. Hademarschen hat er schon längst ins Auge gefasst, dort, in der Nähe des Bruders Johannes und seiner Schwägerin Rike, Doris‘ zwei Jahre älterer Schwester, hat er sich schon vor einem Jahr ein Grundstück gekauft, dort will er ein Haus bauen, dort will er seine letzten Jahre verleben.
Vorauseilendes Heimweh nach Husum überfällt ihn schon frühzeitig: Zwei Menschen werde ich bitter vermissen, klagt er bereits im Herbst 1879. Es sind sein Bruder Aemil und der Landrat Ludwig Graf zu Reventlow. Mit Reventlow (1824–1893) hat Storm sich ähnlich befreundet wie mit dem Landrat von Wussow in Heiligenstadt. Dass Reventlow von Adel ist, spielt, wie bei Wussow, keine Rolle; Storm denkt lebenspraktisch. Der Graf ist ein kluger, teilnehmender Kopf, schroff, brunnentief und von bedeutendem Geist u. Wissen, heißt es im Brief an Paul Heyse, der schon im 1917 herausgegebenen Briefwechsel Storm/Heyse abgedruckt ist. Brunnentief? Das klingt nach nordischer Sage und Schicksal, auch nach der Quelle für den ersten Satz aus Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«: Tief ist der Brunnen der Vergangenheit .
Reventlow hält seine Kritik nicht zurück, lässt auch Spott, Schabernack und Jähzorn los. Das nimmt Storm nicht krumm. Schwer erträgt er, wenn Reventlow um seine Dichtung einen Bogen schlägt; das ist, als wenn er ihn selber übersähe. Wie ein Stachel im Fleisch sitzt noch die Reaktion der Reventlows über »Aquis submersus«, die, sehr gescheute, aber schwer zu befriedigende Menschen, es mir völlig todt geschwiegen haben.
Tief berührt haben muss er sie aber mit seinem Gedicht »Geh nicht hinein«. Als der älteste, sechzehnjährige Reventlow-Sohn Theodor am 21. Mai 1878 starb, nahm auch Storm tief empfundenen Anteil an der Trauer. Gleich am 22. Mai stattete er den Kondolenzbesuch ab und begab sich in das Totenzimmer. Aus der Erinnerung an die Begegnung mit der Leiche des jungen Grafen schrieb Storm ein Gedicht, das er zunächst »Einem Todten« nannte, später »Geh nicht hinein«. Der Dichter muss erschüttert gewesen sein und schreibt an Karl, indem er versehentlich Todestag und Besuchstag gleichsetzt, daß heute Morgen Theod. Reventlow am Gelenkrheumatismus (zuletzt Herzentzündung), nachdem er in den 6 W. seiner Krankheit qualvoll gelitten, sanft gestorben ist. Ich war soeben bei dem Todten. Ein den Beschauer vernichtender Friede liegt doch über einer solchen Leiche . Auch Franziska zu Reventlow erinnert sich später an seinen Todestag, wie wir hinaufgeführt wurden in sein Zimmer, wo er mit tot gefalteten Händen lag, diese Szene hat sich mir unauslöschlich eingegraben. Sie greift dieses Ereignis in ihrem ersten Roman »Ellen Olestjerne« auf, wenn sie den Tod des jungen Kai Olestjerne schildert.
»Einem Todten« wird zunächst veröffentlicht im Septemberheft der »Deutschen Rundschau« 1879, dann aufgenommen in die »Gedichte« im Verlag der Gebrüder Paetel 1880 und zuletzt 1882 in die »Gesammelten Schriften«, die bei Westermann erscheinen. Zweifellos haben die Reventlows dieses Gedicht gekannt; dafür wird Storm sofort nach Erscheinen gesorgt haben; er braucht ihre Teilnahme an seiner Dichtung, in der es regelmäßig um Leben und Tod geht.
»Geh nicht hinein«
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