Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
fuhren weiter bis zur Eider. Hier, bei Bokelhop, luden die Schiffer die Fracht um, und auf größeren Schiffen gelangte sie flussaufwärts über den alten Eiderkanal in die Ostsee bei Kiel, und flussabwärts, Friedrichstadt blieb steuerbord liegen, erreichte sie vor Tönning die Nordsee.
1876 verkaufte Johannes Storm sein Bokhorster Grundstück, nachdem
er schon 1860 mit seiner Familie ein neu erbautes Haus in Hademarschen bezogen hatte, dessen Zuckerbäckerstil geradezu das Gegenteil zur Architektur des Theodor-Storm-Hauses darstellt. Matthias Claudius, ein Enkel des Wandsbeker Boten, war der Architekt, und Storm weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, welches Haus sich für mich schicken wird . Die hier und
da geäußerte Vermutung, dieser Matthias Claudius könnte auch Storms Architekt gewesen sein, ist abwegig; der Entwurf für einen unbekannten, wohlhabenden Bauherrn belegt es. Storm hatte schon sehr früh eigene Vorstellungen von der Architektur seines neuen Hauses und kritzelte eine Skizze zwischen die Zeilen eines Briefes an Albert Nieß.
Der tüchtige Johannes Storm wusste, was die Stunde geschlagen hatte, denn die »Westholsteinische Bahn« sollte ihren Weg durch Hademarschen nehmen. Damit war für sein Geschäft der Hafen von Bokhorst überflüssig geworden, die Firma Storm zog dorthin, wo die bessere Verkehrsverbindung lag.
Hier in meinem Hause auf der Höhe … grade jetzt pfeift der 6 Uhrzug vorbei … die Welt ist voller Eisenbahnen, schreibt Storm an Paul Heyse. Von unten herauf klingt das vierhändige Klavierspiel von Tochter Elsabe und seiner Lieblingsnichte Lucie, Mendelssohns schottische Symphonie, eine Stimmung hier oben ganz nach Storms Geschmack, aber die alte Angst hält ihn in ihrem Bann: Ich habe so ein verflucht sehnsüchtiges Gefühl, alle, die ich liebe, möglichst nah bei mir zu haben . Zu den Menschen, die Storm liebt, zählt besonders Paul Heyse, mit ihm pflegt er eine innige Brief-Beziehung. Heyse ist aus Storm-Sicht wie ein jüngerer Bruder, und der sieht in Storm den Freund, der besonders dann mit Nachsicht und Diplomatie behandelt werden muss, wenn er von seinen Verlassensängsten geplagt wird. Verlassensängste oder die Angst davor, etwas hergeben zu müssen?
Vielleicht ist die persönliche Bindung Heyse/Storm auch deswegen stark, weil beide ein ähnliches Familienschicksal verbindet. Heyses Frau Margarete starb nach acht Ehejahren. Er heiratete, wie Storm, ein zweites Mal, musste dazu noch den Tod seiner Söhne Ernst und Wilfried hinnehmen, die im Kindesalter starben. Die beiden Dichter sehen sich verbunden im gemeinsamen Kummer mit einem Sorgenkind. Wie Storm, so möchte auch Heyse einen Sohn nach seinem Bild, aber der preußische Leutnant, dem Heyses Herz gehört, lässt sich beim besten Willen nicht aus dem Sohn herausmeißeln.
In dieser Zeit hat Storms Ältester schon die Anker nach Brasilien gelichtet und Franz Heyse soll sein Glück als Forstmann in weit von München entfernten Wäldern suchen. Ein paar Jahre später kann Vater Heyse ihn von seiner Sorgenliste streichen .
Bei Storm aber hört die Sorge um den Ältesten nicht auf, so sehr er auch für ihn Opfer bringt, für ihn rechnet und Sparpläne entwirft, Geld vorstreckt und auf die Schuldenliste schreibt, damit es unter den Kindern später einmal gerecht zugeht. Dem Schiffsarzt Storm ist nach drei Fahrten mit der »Santos« gekündigt worden. Der Vater reist nach Hamburg, und ich ließ ihn absichtlich, ohne mich (außerlich freilich nur) um ihn zu kümmern dort bis an den Abgrund der Noth kommen, schreibt er an Heyse.
Ärztliche Ausrüstung, Bücher und auch Garderobe sind dem Schiffsarzt Storm gepfändet worden. Er wird von seinem Vermieter vor die Tür gesetzt, weil er weder Miete noch Kostgeld bezahlt, er zieht in Hamburg ohne feste Adresse umher, landet im Asyl für Gestrandete und scheint nur die vor seinen Sinnen tanzenden Lüste im Auge zu haben. »Hans und Heinz Kirch« wird die Novelle heißen, die Storm sich später von der Seele schreibt.
Anfang September kommt Hans auf drei Wochen Urlaub nach Hause, dort beichtet er seinen Kusinen, daß er sich vor sich selber fürchte. Und Vater Storm bemerkt: Hans sieht sehr aufgedunsen im Gesicht aus – ich glaube, er hat mit seinem Freunde, dem Morphiumfresser Dr. Behrens eine ziemliche Campagne durch gemacht – sonst ist er recht nett u. vernünftig. Keine leichte Zeit für die Storm-Familie, denn Doris muss an der Gebärmutter operiert werden. Der Polyp wird
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