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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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kleine Ort bei Lohr am Main im Spessart stellt ihn an für rund 1100 Mark Festgehalt im Jahr; er soll Patienten in fünf Gemeinden versorgen.
    Hans adressiert seine Briefe nicht mehr an seinen Vater, sondern an Stiefmutter Doris, die ist jetzt seine Correspondentin.
    Nachrichten, die nun von Hans aus Frammersbach kommen, findet Storm nett. Nett – das ist neben Behaglichkeit ein weiteres Lieblingswort unseres Dichters. Dort unten im Oberfränkischen scheint alles in Ordnung zu sein. Käferfreund Hans schickt aus der oberfränkischen Natur lebende Hirschkäfer, sehr große; deren Fütterung (mit Zuckerwasser aus einem Theelöffel, nach Taschenberg) sogar Mama sich heut Morgen unterzog . Das nimmt Käferfreund Storm als gutes Zeichen, er ist nun doch wieder, gegen alle Vernunft, zuversichtlich gestimmt; denn an Hans Speckter schreibt er: Ich beginne zu hoffen, daß wir ihn wiederhaben. Von den ärztlichen Fähigkeiten seines Sohnes ist er sowieso überzeugt, und Hans ist offenbar so beschäftigt, dass sein ärztlicher Dienst ihn selber noch kranker macht, als er schon ist. Er plagt sich mit Keuchhusten, lädt sich zusätzlich Arbeit für eine Liebesgabe auf. Zum Dank für die in diesem Jahr mit Freude und Hoffnung geschickte Weihnachtskiste von zu Hause schickt er einen Wildschweinbraten aus Frammersbach, als die Thiere dort regierungsseits geschossen wurden . Er schreibt: » Laßt’s Euch schmecken und denkt dabei an mich« . Der Braten schmeckt dem Vater, es ist zartes, leicht verdauliches Fleisch, etwas fetter wünschte ich es freilich wohl; es müßte fast gespickt werden, wie ein Hase, bedankt er sich.
    Familienfrieden? Aus der Sicht von Hademarschen behandelt das Leben Hans offensichtlich gut. In Frammersbach und über den Umweg seiner Briefe an Stiefmutter Doris kann Vater Storm seinem Sohn nicht mehr auf den Pelz rücken. Seine Antworten halten sich aber im alten Ton. Die bohrenden Fragen, die Ratschläge und Anweisungen zum ärztlichen und privaten Rechnungswesen hören nicht auf, obwohl Hans sich weitere Einmischungen in seine Geldangelegenheiten verbeten hat. Und Vater Storm befährt wieder das Fahrwasser in Selbstmitleid und Tränenseligkeit, um von dort und im selben Atemzug mit seinem Erziehungszauber den Sohn gleichzeitig zu kritisieren und aufzumöbeln: Laß mich noch, ehe ich sterbe, einmal jubeln und triumphieren gegen alle, die – und freilich mit Recht – gezweifelt haben, daß Du das wilde Pferd deines Lebens noch einmal reiten würdest, dann würde ich als ein glücklicher Mann die Augen zu thun .

»Der Herr Etatsrat«
    Der Amtsgerichtsrat a. D. Storm dichtet eine Novelle über den Etatsrat Sternow: Akademiker schreibt über Akademiker. »Der Herr Etatsrat« ist die erste Novelle, die in Hademarschen entsteht und im Februar 1881 beendet wird; sie erscheint im August 1881 in »Westermanns Illustrierten Monatsheften«. Bizarren Charakters und nicht von dieser Welt ist der Mann, den Storm sich vorknöpft, ein Mensch, der sich im Deich- und Wasserbau auskennt und auf diesem Gebiet unbezweifelbare Verdienste erworben hat, einer mit so befremdlichen wie lächerlichen Eigenheiten. Gleich zu Anfang, im zweiten Absatz der Novelle, heißt es: Sie müssen die Bestie ja noch in Person gekannt haben? Damit ist der Etatsrat Sternow gemeint, und aus dem Leben dieses Sonderlings berichtet Storm.
    Diese Arbeit zählt zu den kurzen Novellen; gleichwohl steht sie wie ein Extrablatt in Storms künstlerischem Schaffen; denn nirgendwo sonst übt er eine derart radikale und vernichtende Selbstkritik wie hier. Die Novelle wurde auch als Kritik am preußischen Adel gelesen, ein verheerendes Urteil über den Adel ist sie nicht. Vor allem handelt sie von Auslöschung und Selbstvernichtung am Beispiel des komischen Sternow, mit dem Storm den Akademikerstand und die ersten beiden Buchstaben im Namen gemeinsam hat.
    Selbstkritik also im Etatsrat? Kaum zu glauben, aber wahr; denn sehen wir genauer hin und überblicken dabei Storms Leben, dann sehen wir klarer und den tieferen Grund: wechselnde Stimmungen, die ihn ebenso plagen wie beherrschen. Selbstherrlichkeit und Kleinmut, Selbstmitleid und Großherzigkeit, Ichsucht und Hilfsbereitschaft, Mitleid und Härte, Standesdünkel und Demut, Wichtigtuerei und Beklommenheit, Gefallsucht und Genügsamkeit, Dickköpfigkeit und Versöhnungsbereitschaft, Aufdringlichkeit und Zurückhaltung, Zögern und Zupacken liegen nahe beieinander und stürzen ihn immer wieder in Wechselbäder

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