Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
der Gefühle. Allmachtsempfinden und Herrschaftsanspruch schlagen schnell um in Ohnmacht und Alptraum. In dieser Gefangenschaft sitzt der Freiheitswille, der sich im Etatsrat seine chaotisch-anarchisch vollendeten Tatsachen schafft. Hier sitzt aber auch der Stachel der Stormschen Selbstkritik. Der treibt ihn, bewirkt das Rastlose seiner Dichterarbeit. Storm hält ihn aus, weil er sich bedingungslos an die künstlerische Arbeit bindet. Sie bewahrt ihn vor dem Sturz ins Ungewisse, sie ist ihm der Horizont, den auch der Flieger braucht, um heil von A nach B zu gelangen.
In der tragischen Lebensentwicklung seiner Söhne, insbesondere von Hans, hat Storm sich immer wieder gefragt, ob darin nicht auch eigene Schuld zu finden sei, die Schuld des Vaters. Es ist dir doch nicht gelungen, das Herz deiner Kinder zu gewinnen; du mußt das nicht verstanden haben, denn an gutem Willen hat es doch nicht gefehlt . Sehr wahrscheinlich, dass er seinen guten Willen erfolgreicher in die Kunst als in die Kinder investiert.
Im »Etatsrat« steckt Storm sich wieder einmal in den Ich-Erzähler, handelt sich wieder einmal die Schwierigkeiten und Hindernisse ein, die das Erzählen aus der Ich-Perspektive mit sich bringt. Damit hat er, wie in der Novelle »Auf der Universität«, schon schlechte Erfahrungen gemacht, und auch hier erweist sich diese Form des Erzählens als ungünstig; denn um das vielschichtige Familiengeschehen auch nur notdürftig auszuloten, braucht er wieder Hilfserzähler, hier den Rotgießermeister und die Tante Allmacht und noch weitere, die alles das sehen und erzählen, was der Ich-Erzähler nicht sehen kann.
Von einer Familiengeschichte im »Etatsrat« kann keine Rede sein; denn wesentlich will Storm seine Erzählung nur um zwei Figuren kreisen lassen: um den verrückten Sternow und um dessen Sohn Archimedes, in dem das Schicksal des Storm-Sohnes Hans waltet. Die Gestalt des Diener-Faktotums Käfer und gänzlich die Sternow-Tochter Phia vermag Storm in dieser Novelle nur im Hintergrund und schemenhaft zu zeichnen, auch diese beiden hat er sich aus seinem Familienerleben in die Novelle geholt. Von Phias Mutter erfahren wir kaum mehr, als dass sie bald nach der Geburt der Tochter ihr freudloses Leben dahingegeben hatte .
Den Anspruch, diese Novelle zeige die Familie in ihrer Zerstörung mit den tieffsten Schatten, löst »Der Herr Etatsrat« nicht ein. Sie ist, wenn auch volle Kraft voraus, auf halbem Weg stecken geblieben. Paul Heyse habe nicht umhin gekonnt, ihn als unheimlichen Torso zu bezeichnen, dem du auf die Beine helfen mußt, so Storm in einem Brief an Sohn Ernst.
Auf Friedrich Westermanns Flehen , die Novelle hier und da aus Schicklichkeitsgründen zu »entschärfen«, was erst in der Buchausgabe wieder auf die Beine gestellt wird , geht Storm zähneknirschend ein; denn der »Etatsrat« soll noch im Augustheft der Monatshefte zu lesen sein. So ersetzt er die spannende poetische Fundsache, die den Etatsrat kurz und bündig in seiner Nacktheit beschreibt – bis er zuletzt in greuelvoller Unbekleidung dasaß – durch den umständlich-blumigen Satz: bis der Geist aus einigen weiteren Gläsern den Herrn Etatsrath über alle Schwere und Unbequemlichkeit des irdischen Leibes hinausgehoben hatte . Für länger dauernde Umbauarbeiten seiner Novellen hat Storm indes nie Zeit, er schlägt sie oft sehr über einen Leisten, hat Erich Schmidt in einem Brief an seinen Lehrer Scherer angemerkt.
Gerade jetzt hat für Storm das Sprichwort »Zeit ist Geld« besondere Bedeutung: Die Villa in Hademarschen benötigt viel davon, und je schneller der Autor abschließt und abliefert, desto schneller kommt das Honorar,
mit dem die Handwerker bezahlt und Söhne und Töchter finanziert werden können.
Die Bestie Etatsrat holt der Dichter aus den Anfängen seines literarischen Schaffens. Sie entstammt der Märchenwelt des »Hans Bär«, in den sich der junge Storm hineinversetzte, um die ferne Geliebte Bertha von Buchan zu erobern. Das ungeschlachte, gewalttätig Auftrumpfende dieses Wesens, das, halb Tier, halb Mensch, als grausamer Märchen-Rambo seinen blutigen Weg geht, hat sich in der Bestie Etatsrat erhalten.
Bestie Etatsrat hat sich allerdings weiter entwickelt. Starallüren und Affigkeit zeichnen ihn aus, Geiz und Sauferei, Ungehobeltes und Rücksichtslosigkeit. Das Dumpf-Naive des Hans Bär, des Gegenbildes zum Eichendorff-Taugenichts, hat sich bei ihm ins Gerissene und Schlaue verwandelt. Mitleid und tätiges Helfen
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