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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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in seinem Schuh-Tic viel zu viele gekauft hat, stehen nun wie mit letzter Verfügung durch das Testament geordnet. Der Todgeweihte hat das unter Aufbietung der verbliebenen Kräfte seiner Krankenpflegerin diktiert und sie in Reih und Glied aufstellen lassen. Du lieber Gott, so kleine Füßchen und so viele kleine Stiefelchen , sagt sie, als sie ihr Werk betrachtet, mehr erstaunt über dieses Bild als erschreckt über den sterbenden Archimedes. Füßchen und Stiefelchen mögen für Käferbeine stehen; Käferbeine haben als Karikatur des Soldatischen schon immer ihren Platz gehabt, vorzüglich auch in Kinderbüchern. Mit dem in Reih und Glied aufgestellten Schuhwerk sieht diese Szene ganz aus nach militärischer Besetzung und Eroberung des Sterbezimmers. Füßchen und Stiefelchen sind aber noch mehr Eroberung: Stormsche Diminutive, jedes einzelne eine Liebeserklärung an die erotischen Zaubermittel Fuß und Stiefel.
    Etatsrat Sternow, Sohn Archimedes, Faktotum Käfer – wo sind die Frauengestalten? Als Statistin auf Storms poetischer Bühne steht die Gattin des Etatsrats, nicht einmal ihren Namen erfahren wir. Margrethe, die Schwester des Erzählers, steht ebenfalls im Abseits, der Autor braucht sie nur als weitere Kraft in seiner Hilfserzählertruppe. Phia, Tochter des Etatsrats und seiner anonymen Gattin, lässt der Dichter allerdings in einer Nebenrolle auftreten. Sie begegnet dem Erzähler zum ersten Mal, als sie in das Zimmer tritt, in dem Archimedes ihm Nachhilfeunterricht gibt und den Pythagoras erklärt – Mathematik ist übrigens auch Storms schwache Seite. Ein fein gebautes, etwa zwölfjähriges Mädchen mit zwei langen schwarzen Haarzöpfen stand im Zimmer, berichtet der Erzähler. Da erwacht die Erinnerung an einen Brief, den Storm als große Beichte an seinen Freund Brinkmann schrieb und in dem er von der ersten Begegnung mit Doris Jensen erzählte: Während meines Brautstandes kam meine Schwester Cäcilie mit einem etwa 13jährigen Mädchen, einer feinen zarten Blondine, auf mein Zimmer .
    Storm lässt Cäcilie in die Rolle der Phia schlüpfen und das tragische Leben seiner jüngsten, schwer essgestörten Schwester noch einmal mit wenigen, aber deutlichen Pinselstrichen vorbeiziehen. Sie erscheint wie das Kind einer toten Mutter und zählt zu den Elfenwesen, welche im Mondesdämmer über Gräbern schweben. Der Erzähler denkt sich jene jungfräulichen Geister nur unter der Gestalt der blassen Phia Sternow . Sie hält ihr Antlitz wie das einer schönen Toten mir entgegen, heißt es später, der Erzähler spricht von der Lebenden wie von einer Toten.
    Dann aber: Phia hat sich wie aus heiterem Himmel verliebt in das Faktotum Käfer. Der Leser fühlt sich überrumpelt, ähnlich wie Archimedes, der brüderlich eifersüchtig ist, denn Phia hält diesen Käfer für den besten aller Menschen! Käfer, das Insekt der siebenten Ordnung, dem Archimedes am liebsten die Flügeldecken ausreißen würde, ist ihr Liebster geworden.
    Auch hier greift Storm in die Familiengeschichte, denn Cäcilie verliebte sich wie Phia, damals in Husum. Sie begann das Techtelmechtel mit dem blutjungen dänischen Hilfsrichter Ørstedt, der während der dänischen Besatzungszeit im Hause Storm in der Hohlen Gasse wohnte. Storm, der wegen seiner Affäre mit Doris selber im Glashaus saß, schwang sich damals, ähnlich eifersüchtig wie Phias Bruder Archimedes, als Moralapostel auf, lief zu Vater Johann Casimir und plauderte aus, die Sache flog auf. In einem Brief an Brinkmann beschrieb Storm die beiden jungen Sünder und den jungen Gerichtsoffizier, Sohn des berühmten Naturforschers Hans Christian Ørstedt aus Kopenhagen, als verhagelten Menschen und Muttersöhnchen . Passend dazu heißt es über das Faktotum »Käfer« im Etatsrat: Der Bursche mit seinem zarten blassen Gesicht und den weichgelockten braunen Haaren sah keineswegs so übel aus .
    Phia geht ähnlich unschuldig zugrunde wie Cäcilie. Das Schicksal hat ihr erstens den Etatsrat als Vater beschert, zweitens diesen Fehltritt aus Liebe, durch die sie auf Käfer hereinfällt. Sie bringt, wie Cäcilie, noch ein Kind zur Welt. Phia stirbt zusammen mit ihrem Kind bei der Geburt, Cäcilies Kind stirbt ein halbes Jahr nach der Geburt, und sie selber landet in der Irrenanstalt in Schleswig, wo sie nach ein paar Jahren geistesverwirrt stirbt.
    Unangenehm und peinlich, wie Storm die schwangere Phia noch einmal zerknirscht und voller Verzweiflung vor den Erzähler treten lässt, um ihm zu

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