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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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Rundschau« und »Westermanns Monatshefte«, wo Storm regelmäßig veröffentlichte, lagen in der »Lesehalle deutscher Studenten« aus. Die Leser konnten also laufend ihr Wissen über diesen Autor erneuern.
    Ob und wieweit Kafka diese Novelle Vorbild gewesen ist für seine »Verwandlung«, lässt sich nicht nachweisen, sicher aber wird sie ihm vorgeschwebt haben und möglicherweise hat sie den »Perpendikelanstoß«, von dem Storm gern redete, gegeben. Vierunddreißig Jahre nachdem der »Etatsrat« 1881 im Augustheft von »Westermann’s Illustrierte Monatshefte« erschienen war, wurde Kafkas »Verwandlung« 1915 im Oktoberheft der »Weißen Blätter« abgedruckt, dieser bedeutenden Monatsschrift des Expressionismus.
    Wie anders aber führt Kafka seine »Verwandlung« durch! Oder etwa doch nicht so viel anders? Während der Etatsrat sein Bärenfell und das Käferdasein eher wie eine Jahrmarktsverkleidung trägt und von Anfang bis Ende der Novelle das Heft des Handelns in der Hand hält – wie Storm selber, der sogar noch im Krankenbett das Familienzepter schwingt –, muss Kafkas Gregor Samsa als der ins Käferdasein Verbannte ein trostloses Leben in Hilfslosigkeit und Demütigung führen. Von Theater und Verkleidung spüren wir bei Kafka nichts, hier geht das poetische Bild vollkommen als greifbare Wirklichkeit auf, der arme junge Mann ist nicht anders vorstellbar als der in einen Käfer Verwandelte, als das in einer geheimnisvoll-undurchlässigen Welt lebende Opfer.
    Der Käfermensch Sternow lebt in einer Gegenwelt. Sein marktschreierisches Dasein wird von seinem Schöpfer, der hier sein sonderbares Alter Ego zeichnet, als Einzelstück fest im Rahmen gehalten. Keine weitere Figur passt zu dieser unvergleichlichen Person. Hieraus ergeben sich auch die Verständigungsprobleme, die der Etatsrat mit seiner Umgebung hat und umgekehrt; auch das von Storm gewollte Groteske kann seine Wirkung nicht entfalten. Die dem Etatsrat zugeschriebene Schreckens- und Vernichtungskraft hat damit etwas von einem zahnlosen Tiger. Dass der schließlich die Familie vernichtet und noch darüber triumphieren kann, ist schwer nachzuvollziehen.
    Und doch wirken tierische Kräfte des Etatsrats. Seine Umgebung wird mit seiner wie in Krankheitsschüben auftretenden Käfer-Gefangenschaft angesteckt. Der Hausverwalter und Sekretär heißt nicht nur »Käfer«, sondern verfügt als blinder Gefolgsmann und gewissenloser Vollstrecker nur über Gewissen und Verstand im Käferformat. Sodann befällt die Käferkrankheit den Sohn des Hauses, Archimedes. Er ist der »Gregor Samsa« in der Storm-Novelle. Das Schicksal dieser beiden jungen Männer ist auffallend ähnlich. Archimedes trägt zudem auch deutliche Züge von Storms Sohn Hans, mehr noch: Das jammervolle Ende des Archimedes mit all seinen Begleitumständen findet sich in Ende und Begleitumständen des Kafka-Helden wieder.
    Zunächst fällt bei Archimedes sein gründliches Käfer-Wissen auf, das auch Hans hat. Wie Hans zeichnen auch Archimedes Intelligenz und Begabung, Überempfindlichkeit und Minderwertigkeitsgefühle, Alkoholsucht und Dandytum, leichtsinnige Geldwirtschaft und Schwäche für Schulden und Extravaganz aus. Storm zeigt ihn aber auch als den Sohn, der Liebe, Geborgenheit und Anerkennung sucht – und, vom Vater brutal-herzlos abgewiesen, nicht bekommt. Storm erinnert den Leser dazu an eine Begebenheit, die der heikle Hans vor vier Jahren in Würzburg mit Erich Schmidt erlebte. Der hatte ihn in einem Brief mit »Lieber Herr Storm« angeredet. Hans reagierte wegen des vertraulichen Tons gekränkt und wehrte sich in seiner Antwort, wünschte mit »Geehrter Herr« angeredet zu werden. In Storms Etatsrat beschwert sich Archimedes-Hans über das Faktotum Käfer, der gewagt hatte , mich bei meinem Vornamen anzureden .
    Gregor Samsa aus Kafkas »Verwandlung« und Archimedes aus Storms »Etatsrat« teilen sich das Schicksal des verlorenen Sohnes. Beide leben in Abschließung und Einsamkeit. Als Archimedes am Ende auf seinem Todeslager wie ein kleiner abgezehrter Greis liegt, hat sich die Wandlung vollzogen, die Kafka in seiner Novelle Verwandlung nennt. Hier liegt die Schnittstelle der beiden Textwelten Storm-Kafka.
    Storm rüstet Archimedes kurz vor seinem Ende noch mit käferartigen Wesenszügen aus, ja sein Sterbezimmer ist erfüllt von Käfersymbolik. Seine Finger zuckten unruhig durcheinander . Sieht man nicht da ein Geziefer krabbeln? Die lackierten Stiefelchen , wovon sich Archimedes

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