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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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(auch bei Tieren zu beobachten) hat man ihm nicht in die Wiege gelegt, auch konnte er sich dieses menschliche Plus, das uns so schön erhöhen kann, nicht selber aneignen. Storm zeichnet hier das abstoßende Gegenteil des eigenen Charakters. In ihrer gotteslästerlichen Haltung mögen sich Storm und der Etatsrat ähnlicher sein. Storm aber hat es nie so weit getrieben wie dieser: Der sitzt vor einem Altar, auf dem Symbole des Todes: Schädel und Beinknochen in abscheulicher Natürlichkeit aus Buchs geschnitten liegen.
    Götzendienst wie der Etatsrat hat Storm als pietätvoll denkender heidnischer Kopf nie veranstaltet. Er hat dem Etatsrat aber seine Musikalität eingegeben, lässt ihn, während er eine schwarze Messe zelebriert, singen und sich selber dabei auf der Glasharmonika begleiten. Storm zieht hier die eigene Singekunst in den Schmutz.
    Wir sind in der verkehrten Welt des Jahrmarkts, und auch das Saufen hält uns da weiter fest. Mit Humor hat das alles nichts mehr zu tun, denn zu lachen gibt es für den Leser nichts. Das Groteske, das dort beginnt, wo Humor und Lachen stranden, Wirklichkeit und Fassbarkeit versickern, hat Storm gehörig in die Mangel genommen: Er dreht ein bis zwei Umdrehungen zu viel an der poetischen Schraube, da bricht sie und das Groteske verliert seine Zugkraft.
    Die Figur des Etatsrats ist in Storms zeitgenössischem literarischem Umfeld konkurrenzlos, sie steht in ihrer absonderlichen Modernität einsam da, sie geht in Richtung der Schock- und Schauergeschichten von Edgar Allan Poe, den Storm schätzte, und verweist auf das Personal in den Horror- und Fantasy-Romanen des späten 20. Jahrhunderts.
    Immer noch Jahrmarktstrubel, den Storm selber von Kindesbeinen an erlebte und liebte und in seinen Novellen beschrieb: Karussells, Buden, Kuriositäten wie zum Beispiel Käfer sind im Angebot. Vielleicht liegt dort auch eine Erzählung von Edgar Allan Poe im Stand eines fliegenden Buchhändlers: »Der Goldkäfer«, 1853 ins Deutsche übersetzt.
    Das Käferthema ist Familienthema, es treibt sich herum in der Gesellschaft der Storm-Zeit, und während der Dichter den »Etatsrat« niederschreibt, ist es immer noch aktuell. Wenn er in der Novelle von einem Insekt der siebenten Ordnung, so einer Schnabelkerfe, reden lässt, dann weiß man: Hier spricht der Fachmann. Da überrascht nicht, dass Storm den Etatsrat, den Elenden, nach seinem täglichen Besäufnis, vom Bären, der immerhin als Säugetier zu den höheren Lebewesen rechnet, in ein deutlich niedriger stehendes Lebewesen verwandelt, in einen Käfer. Ein Verwandter des Mephisto scheint dabei seine Hand im Spiel zu haben, denn es erscholl um solche Zeit aus dem Saale ein dumpfer Fall, und abgerissene, elementare Laute, einem Windstoß in der Esse nicht unähnlich, drangen in die Nacht hinaus . Das riecht nach stinkendem Pferdefuß und Teufelswerk. Die Verwandlung geschieht, wir erhalten schon eine Vorschau auf das nackte Käferleben. Jetzt geht’s noch eine Stufe weiter abwärts, denn auf dem Fußboden neben seinem Altar lag der Herr Etatsrat gleich einem ungeheuren Roßkäfer auf dem Rücken und arbeitete mit seinen kurzen Beinen ganz vergebens in der Luft herum, bis Herr Käfer, das allmählich immer unentbehrlicher gewordene Faktotum, und der einzige Sohn des Hauses den Verunglückten mit geübter Kunst wieder aufgerichtet hatten und in seinem Kabinett zur Ruhe brachten . Oder die zwei bei Fuß stehenden willigen Helfer kutschieren den Etatsrat hinaus ans Meer, wo er – Käfer mögen das auch – ein Sandbad nimmt, indem er sich bis an den Hals am Strand eingraben lässt und schon ein wenig Werbung macht für den kommenden Tourismus an der Nordseeküste.
    Erst hundert Jahre später hat die Germanistik das Stichwort gegeben: Man wird geradezu an Kafka erinnert . Und zur Käfer-Frage heißt es: Abgesehen von Kafkas Erzählung dürfte es in der deutschen Literatur keinen zweiten Text geben, der derart käferbesessen ist wie Storms Novelle. Dass Kafka Storms Novellen gelesen hat, ist hochwahrscheinlich; diesbezügliche Äußerungen von ihm sind nicht überliefert. Aber der Name Storm taucht bei ihm mehrmals auf, etwa in seinem Tagebuch oder in einem Brief an Max Brod, in dem er berichtet, er habe Storms »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike« gelesen und sich für Mörikes Äußerungen zu Heine und dessen Judentum interessiert.
    Deutsche Studenten in Prag hatten Storm 1869 um seine Gesamtausgabe gebeten, Storm schickte sie. Die »Deutsche

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