Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Dezember wäre er 38 Jahre alt geworden. Bruder Ernst reist wieder nach Aschaffenburg, diesmal um den Bruder zu begraben. Schön in einen Anzug gekleidet lässt er den Toten in seinem Sarg photographieren; das Bild wird aufbewahrt im Storm-Archiv. Wieder in Hademarschen tritt Ernst ans Krankenlager seines Vaters und sagt, Vater, dein genialster Sohn ist nicht mehr . Wie meint der Bruder das? Klingt das nicht wie mit spitzer Zunge gesprochen? Storm nimmt den Satz für bare Münze, wird ihn ein halbes Jahr später in einem Brief an Freund Heyse aufgreifen: Darin liegt so viel Wahrheit, daß unter dem Wirrniß seines Lebens so viel an Geist und Interessen lag, daß mein Leben, wenn nicht das Elend des Trunkes ihn erfaßt und eine gewisse Wunderlichkeit darüber gelegen hätte, allein durch ihn einen Reichthum, eine oft sich wiederholende Freude würde erhalten haben. Aus Allem ist nichts geworden, als ein wirres Leben, das er nun in fremden Landen ausschläft. Das ist für seinen Vater schwer zu verwinden; ein unerbittliches Mitleid mit dem Todten faßt mich oft .
Weniger poetisch, weniger mit Wunschdenken erfüllt trifft Doris den Nagel auf den Kopf, wenn sie an Erich Schmidt kurz und bündig schreibt: Es ist gut so, aber es ist sehr traurig. Sie erwähnt auch die nach wie vor bedenkliche Gesundheitslage ihres Mannes: Es sind Morgen nun 10 Wochen. Der altbekannte »Magenkatarrh« ist noch dazugekommen und hat ihm gänzlich den Appetit genommen. Storm hat die Todesanzeige für seinen Ältesten, die Doris in den Brief legt, unterschrieben mit Theodor Storm, Amtsgerichtsrath a. D. für mich und die Meinen . An Gottfried Keller geht fünf Wochen später diese Nachricht: Ich verlor zum ersten Mal in meinem Leben ein Kind . Storms eigenes Leben hängt am seidenen Faden: Die Rede ist von chronischem Darmkatarrh , von Darmleiden und Schmerzen im Unterbauch . Doris kann sich gar kein Leben ohne Theodor denken. Den letzten Weihnachten werde ich nie vergessen, Theodor stand auf um bei der Bescheerung zu sein, und seinen geliebten Tannenbaum brennen zu sehen, war aber so elend und bewegt, daß wir Alle trostlos traurig waren, er legte sich zu Bett u ist auch nicht wieder aufgestanden bis jetzt, schreibt sie an ihren Schwager Otto in Heiligenstadt Anfang Januar 1887. Aemil schreibt an Wilhelm Petersen: Meine Hoffnungen auf Erhaltung des Lebens sind sehr gering – er stirbt nicht an der Krankheit, sondern an den Schwächezuständen, die durch dieselbe hervorgerufen sind .
Ist denn wirklich Alles – Alles umsonst? So hatte Storm fast auf den Tag genau vor acht Jahren an sein großes Sorgenkind geschrieben. Ein Satz für die Poesie? Auch das. Die Wörter dieses Satzes haben von jeher sein poetisches Schaffen angetrieben; sie haben unsterbliche Gedichte beschert, wie »Gartenspuk«, niedergeschrieben als der Dichter sich an eine Begebenheit aus der Kindheit seines Sohnes Hans erinnert. Eine Vision vom Erscheinen und Verschwinden dieses Sohnes: Und wieder sah ich – und ich irrte nicht – / Tief unten, wo im Grund der Birnbaum steht, / Langsam ein Kind im hohen Grase gehen; / Ein Knabe schien’s, im grauen Kittelchen. / Ich kannt es wohl; denn schon zum öftern Mal / Sah dort im Dämmer ich so holdes Bild; / Die Abendstille schien es herzubringen, / Doch näher tretend fand man es nicht mehr. So lauten acht von einhundertfünfzehn Versen in diesem seltsam-wunderbaren Gedicht.
»Bötjer Basch« – Reise an den schwarzen Seen vorbei
Wie ein ahnungsvoller, zarter Gegenklang tönt Storms Sprachmusik aus der Novelle »Bötjer Basch«. Er stellt sie im Frühjahr 1886 fertig, als das Lungenleiden seines Sohnes in die letzte schlimme Phase tritt, und sie wird im Oktober, als Hans mit Riesenschritten dem Tod entgegeneilt und er selber schwer erkrankt, in der »Deutschen Rundschau« veröffentlicht: »Aus engen Wänden«, so der anfangs geplante Titel der Novelle. Eine Erzählung aus der Welt der sogenannten kleinen Leute; Storm meint, sie sei keine Novelle, nur eine etwas unbedeutende Arbeit, wie er an Erich Schmidt schreibt. Er stapelt tief oder malt sich selber ein falsches Bild. Möglicherweise hat er sich von den »engen Wänden« selber einklemmen lassen und so für das eigene Urteil den Überblick verloren. »Bötjer Basch« gehört zum Schönsten, was Storm geschaffen hat. Eine Prosa, die gestrickt ist nach dem tief sitzenden Stormschen Wunschmuster Ruhe und Frieden, Segen und Glück und somit Argwohn wecken könnte, die aber
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