Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
nichtsdestoweniger meisterhaft zu Buche schlägt. Alles dreht sich um die Hauptfigur Daniel Basch, den Böttchermeister; sie ist großartig gelungen mit all den von Storm her bekannten und lieb gewordenen Charaktereigenschaften: Nächsten-, Natur- und Tierliebe, Mitleid, Melancholie und dem immerwachen Totengedenken. Eng und unbedeutend ist in der Novelle nichts, auch wenn die Figuren um Meister Daniel, angefangen von Fritz, seinem Sohn, bis zur Untermieterin, der Ex-Kammerjungfer Mamsell Riekchen, viel zu holzschnittartig mit ihrem Leben durch die Novelle ziehen. Auch wenn wieder Altbekanntes aus Storms Novellenfundus seine Rolle spielt: Tod der Mutter im Kindbett sowie totgeborenes Kind sowie der allgegenwärtige Storm-Mythos von der Kindfrau: Aus dem noch halben Kindergesicht hatte das Antlitz der werdenden Jungfrau ihn plötzlich angeblickt . Sorge um den Sohn befällt den Leser deswegen, weil er fürchtet, Fritz, der zunächst nach Hamburg, dann über den großen Teich nach Amerika entschwindet, könnte, ganz nach dem Muster des Storm-Sohnes Hans, dem Alkohol verfallen, aber der Dichter folgt diesem Muster Gott sei Dank nicht. Ihm gelingt hier zum letzten Mal eine Geschichte, die er mit anrührendem, altersweisem Humor erzählt, die sich einreiht in den Reigen der anderen Glanzstücke: »Beim Vetter Christian«, »Die Söhne des Senators« und »Zur Chronik von Grieshuus«. Hier gelingt es Storm, sich dieser heilsamen Wirkung zu bedienen.
Amerika, wohin Daniels Sohn verschlagen worden ist, behandelt Storm allerdings ähnlich platt mit den gängigen Klischees, wie schon in »Von Jenseit des Meeres«. Gelegenheit, sich vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein verfeinertes Bild zu machen, hätte er gehabt. Sein »Adoptivsohn« Ludwig Löwe war in den siebziger Jahren in Amerika gewesen, um sich dort umzusehen und Erfahrungen zu sammeln und sein Unternehmen nach amerikanischem Vorbild auszurichten. Von Löwes Erfolg hätte Storm sich in der Zeitung informieren können, das bahnbrechende Prinzip, auf dem dieser Erfolg beruhte, hat er nicht begriffen . Angehörige von Auswanderen, die in der Stormzeit zu Tausenden ihre deutsche Heimat verließen, wären für Storm in greifbarer Nähe gewesen. Er selber hatte das aus Erzählungen in der eigenen Familie wirklichkeitsnah vor Augen. Auch Agnes Wommelsdorff, die alte Freundin, die Vater Johann Casimir und Schwester Cäcilie 1852 auf der heiklen Reise nach Kopenhagen begleitete, wäre so eine Quelle gewesen, aber man hatte sich aus den Augen verloren. Sie folgte ihren Brüdern nach Iowa, wo sie 1899 in Independence starb. Storms politische Gleichgültigkeit wirkt sich in der Novelle »Bötjer Basch« ein weiteres Mal ungünstig aus.
Webfehler und dünne Stellen im Text sind die Folge; sie sind aber nicht ausschlaggebend angesichts der liebenswerten Schicksalsgestaltung und sprachlichen Schönheit dieser Novelle.
Der ausgebliebene Brief – »Für dieses Mal nicht, liebe Mamsell!« sagt der Briefträger in »Auf dem Staatshof« –, der die Wartenden auf die Folter spannt, ist Lebensthema für Storm wie Novellenthema für den Dichter. Er dient auch im »Bötjer Basch« als dramatisches Scharnier. Er bringt Spannung in die Geschichte und Vater Daniel an den Rand der Verzweiflung, wo er am Ende so lange geistesverwirrt stehen bleibt, bis endlich der verlorene Sohn wieder heimkehrt und sich nach kurzer Erholungspause herausstellt: Es ist doch nicht alles umsonst gewesen.
Storm versteht es, mit Andeutungen und wie beiläufig hingesetzt, Räume aufzutun und Tiefe zu erzeugen. Glückes genug – Schumanns Kinderszenen klingen herauf. Mit Daniel nickte noch einmal in die Grube wird der Prophet Daniel aufgerufen, der, weil er unerschütterlich fest im Glauben steht, eine Nacht in der Löwengrube überlebt. Was für Daniel der Glaube an seinen Gott ist, das ist für Storm der Glaube an die Kunst.
Auch der Gesang des Dompfaffs »Üb immer Treu und Redlichkeit« ist wie eine sich öffnende Tür: Potsdam. Hier hat Storm jeden Tag diese Melodie gehört, geschlagen vom Glockenspiel der Garnisonskirche. Dieses Lied ist der dramatische Faden, an dem Storm eine zarte Liebesgeschichte von Meister Daniel, seinem Dompfaff und der Jugend spinnt. Die Tür zu Storms eigener Jugend wird geöffnet: Ausgelassenheit und Übermut, Frechheit und Phantasie aus der Schulzeit, die er als Fünfzehnjähriger in einem Brief an Vetter Fritz aus Friedrichstadt beschrieb, feiern hier Auferstehung.
Die
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