Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Deichgeschichte, die sich jetzt abzeichnet, als böser Block daliegt und vom Dichter gewälzt werden muss. In seinem Braunen Taschenbuch notiert er nach seiner Rückkehr: Als wir unserm Haus näher kamen, stand Do hinter den Tannen im Garten; ich sprang über den Chausseegraben, über den Zaun, durch die Tannen und hatte nun Alles, was augenblicklich hier ist .
Alles wird im Poesie-Speicher abgelegt, um bei Bedarf geöffnet und abgerufen zu werden. Immer aber lauert der Alltag: Er kostet Kraft und will bestanden sein. Storm steht im Zentrum. Das Familien- und Kunstgeschehen, die Geld- und Krankheitswirtschaft muss er verarbeiten und mit folgerichtigem Dirigieren im Gleichgewicht halten. Solange die eigenen Kräfte reichen, schlägt das Familienschiff nicht leck.
Dann brennt die Holzfabrik von Bruder Johannes ab. Storm kämpft nach der Reiseanstrengung wieder gegen Magen- und Verdauungsbeschwerden und muss auf seine Teilnahme an den Tauffeierlichkeiten bei Ernst, dem ein Stammhalter geboren worden ist, verzichten. Schlimme Nachricht von Elsabe aus Weimar: Das Stormsche Familienübel hat auch sie gepackt mit Magengeschwür und Blutsturz. Sie muss sich erholen und das Studium unterbrechen, und ihr Vater muss wieder tief in die Tasche greifen. Die schlimmste Nachricht aber kommt aus Wörth: Hans hat sich verlobt mit Agnes Arnheiter, Tochter eines Tagelöhners und Maurers. Der Vater möge seinen Consens geben .
Doris erhofft sich von der künftigen Ehe Besserung für Hans und Entlastung für sich. Storm, der sonst schnell den Hoffnungsschimmer sieht, hat hier seine Hoffnung längst fahren lassen, denn er weiß nun endlich, und er vergisst es nicht mehr: Für diesen Sohn gibt es keine Rettung.
Seit dem Frühjahr hat sich Hans‘ Gesundheit dramatisch verschlechtert. Schon im April hat er 7 Mal, d. h. Tage nacheinander Blut gespien; 2 Mal sein Nachtgeschirr voll, 5 Mal handhoch darin, schreibt Storm an Ernst. Hans fühlt nun selber, dass es mit ihm zu Ende geht. Er will nach Hause. So habe ich es aufgefaßt und ihm sofort geschrieben, Mama und ich – wir sind darin ganz einig – bäten ihn innig, wenn oder sobald er reisefähig sei zu uns zu kommen und sich hier hoffentlich auszuheilen. – Ich aber denke, es wird das Ende sein, und so ist es gut für uns beiderseits, wenn er in meinen Armen stirbt . Aber er kann noch nicht kommen, er hängt an einem Mädel, das er noch glaubt heirathen zu können. Hans ist des Todes und wird sein Lager nicht mehr verlassen, er begreift das nicht, auch der Arztverstand nützt ihm nichts. Oder spürt er nun doch, dass er sterben muss, und will deswegen nach Hause?
Ziemlich unappetitlich, was er über seine Beschwerden und Symptome
in einem bisher unveröffentlichten Brief zu sagen hat. Er diktiert, das Diktat ist in Schönschrift geschrieben und wird aufbewahrt im Storm-Archiv in Husum: Liebe Eltern! Ich habe mich wieder etwas erholt. Der eigentliche Auswurf, welcher süßlich schmeckt und dunkelbraun ist, ebenso nicht lufthaltig ist, wird ohne Anstrengung im Verlauf von ungefähr einer halben Stunde oder in noch kürzerer Zeit von mir entfernt, worauf ich den ganzen Tag nichts wie gewöhnlichen Schleim auswerfe […] So in 14 Tagen denke ich zu Euch reisen zu können. Vor allen Dingen muß ich vorerst mir einen andern Anzug machen lassen, denn in meinen alten Kleidern bin ich nicht mehr daheim. (…) Ich werde einen mittleren nicht so teuren Stoff wählen, daß mir der Anzug bald zu eng wird. Die Unterschrift : Euer Sohn. Mit eigener Hand schreibt er fast unleserlich seinen Namen: H. Woldsen-Storm.
Storm glaubt nicht an ein Wiedersehen mit seinem Ältesten, und während der seinem Lebensende entgegendämmert, wird er selber schwer krank mit einer Rippenfellentzündung. Bruder Aemil und Hausarzt Dr. Brinken sind in großer Sorge. Der Patient ist ans Bett gefesselt. Schmerzen plagen, ohnmächtig muss er zusehen, wie ihm das lebensnotwendige Dichten und Denken brach liegt. Ernst besucht seinen Vater, reist weiter nach Wörth zu seinem Bruder, bringt ihn ins Krankenhaus nach Aschaffenburg.
Auf dem eigenen Krankenlager greift Storm zum Bleistift und notiert in wackeliger Schrift: Mein lieber Hans, da liegen wir noch immer und können nicht zueinander; aber in der Stille meines Krankenbettes bin ich oft bei Dir. Es ist mir ein rechter Trost, daß unser guter Ernst bei Dir gewesen ist, erst bei mir, dann bei Dir; es ist ein schlimmes Jahr, das 1886.
Hans stirbt am 5. Dezember, am 25.
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