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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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vorgeführt, in welch unterschiedliche Reviere des Denkens und des Ausdrucks ein Biograph allein aus politischer Opportunität geraten kann. Mommsen habe, so Stuckert 1955 mit dem Hinweis auf Mörike, dem werdenden Lyriker einen Maßstab organischer deutscher Form gegeben, der an fruchtbarer Wirkung weit über die Begegnung mit Eichendorff und Heine hinausreichen sollte. Stuckert will auch hier nicht sehen, dass Storm selber nie einen Unterschied zwischen diesen drei Großen gemacht hat, und so war ich mit denen bekannt, die bestimmend auf meine eigene Kunst einwirkten; ich wurde ihr Schüler, niemals ihr Nachahmer; davor bewahrte mich meine zu selbständige Natur , schreibt er später in seinem Entwurf zur Tischrede anlässlich seines 70. Geburtstags. Aber es kommt noch schlimmer: Hinter organische deutsche Form versteckt Stuckert eine Formulierung, mit der er 1940 wider besseres Wissen Heinrich Heines Kunst und ihre Bedeutung für Storm tiefer gehängt hatte: Dem Reiz dieser Dichtung konnte Storm sich um so weniger verschließen, als er aus einer ganz unliterarischen Umwelt kam und die echte Dichtung seiner Zeit kaum kannte. So verfiel er dem jüdischen Anempfinder wie unzählige Zeitgenossen […].
    Storm hat bis zum Ende seiner Kieler Tage im Herbst 1842 das Projekt Bertha nicht aus den Augen verloren, nicht aus dem Sinn, nicht aus dem Dichterherzen. Gleich zu Anfang gestattete er sich in seinem Tagebuch Liebesträume, als er im Düsternbrooker Gehölz ein idyllisch gelegenes Gartenhäuschen entdeckte. Umschlungen von Geißblatt ist das ein Dornröschenschloss. Geißblatt, auch Jelängerjelieber genannt – ein Gewächs mit betörendem Blütenduft, ein Liebesfaden, der sich durch Storms Novellen rankt, bis hin zur letzten unvollendeten von der Armesünder-Glocke. Mit der ihm eigenen Einbildungskraft zaubert Storm eine schöne, schlanke Jungfrau in das Traumhaus von Düsternbrook. Sie hat Berthas blaue Augen und ihre braunen Locken, die süßen Lippen und eine Brust, die nur für mich pocht. Im Prosafragment »Celeste«, das ebenfalls in der Kieler Zeit entstanden ist, nickten duftende Geißblattranken ein träumerisches Gute Nacht. In dieser Erzählung über ein schiffbrüchiges Paar auf einer einsamen Insel wagt sich der Autor weiter vor als im Tagebuch. Als Ich-Erzähler erklärt er Celeste zu seiner Schwester und begehrt sie als Weib . Eine Vorahnung für das Gedicht »Geschwisterliebe«? Das junge Paar übernachtet in einer Grotte auf der Insel. Heulende Hyänen machen den beiden einen Strich durch die Liebes-Rechnung. Ähnlich wie Lockenköpfchen wirft sich Celeste in die starken Arme des Ich-Erzählers: Hörst du, mein süßes Mädchen! Sie sollen dich gewiss nicht wieder in deinen Träumen stören.
    Den Geburtstagsbrief an Bertha zum 1. Februar 1841 schreibt Storm an mein herzliebes Blümelein . Das ist ein Rückgriff auf das dem Brief beiliegende Gedicht Und als das Kindlein geboren ward , hat aber im Brief zugleich Onkel- und Tanten- und Mutter- und Vaterton. Storm berichtet vom Weihnachtsfest 1840, das er zusammen mit Freunden in Kiel verbrachte. Ein mit Äpfeln, Eiern, Netzen, Zuckerzeug und vielen bunten Lichtern geschmückter Tannenbaum ist auch mit nationalen Effekten ausgerüstet worden: Das Wappen von Schleswig und Holstein und der alte Spruch von der Unteilbarkeit der Herzogtümer verzieren ihn. Man bringt einen Toast: Bei Tisch brachten wir das erste Glas allen unseren Lieben in der Ferne, das zweite der bleibenden Vereinigung unseres Vaterlandes in den beiden Herzogtümern, das dritte unserer Vereinigung . Ein schwebender Übergang vom politischen auf den privaten Schauplatz.
    Sieh nur, mein gutes Herz , schreibt Storm und berichtet über seine Gedanken in der Neujahrsnacht. Von Tod und Vergänglichkeit redet er, von Leiden, Liebe und Sterben: Denke dir nur, wie nach wenigen Jahren das ganze lebende Geschlecht von der Erde getilgt sein wird, wie dann alle, die jetzt so eifrig sich regen und mühen, dann so stille schlafen werden mit Allem; was sie liebten und litten , interessante, kluge Todesgedanken legt Storm seiner fünfzehnjährigen Bertha zum Geburtstag ans Herz. Dass er sie mit solch finsteren Nachrichten nervt, liegt auf der Hand. Lockenköpfchen kann davon ein Lied singen, wenn der Sänger seine Aufwartung macht. Nach seinem Besuch im Oktober 1840 hatte Bertha einen Monat später an Storm geschrieben: mir scheint es, als hätte ich dich sehr viel zu fragen, und dir zu erzählen, aber

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