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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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zu diesem Kinde wird mein Leben noch schwer verwüsten , schreibt er an Mommsen, mit dem er lebhaften Briefkontakt unterhält; das »Liederbuch dreier Freunde« ist auf dem Weg und wird in Kürze erscheinen.
    Ganz gewiss war Bertha für Storm so etwas wie »Frau Venus«, die den Dichter Tannhäuser in ihren Zauberberg lockt. Tannhäuser erreicht tatsächlich das sexuelle Zentrum der erotischen Traumstätte. Sein schlechtes Gewissen lässt er auf einer Pilgerfahrt vom Papst entsorgen. Bei Storm verläuft das Liebesschicksal anders: Er erreicht nie den Venusberg, ihm bleibt Tannhäusers Schicksal erspart: Nicht das schlechte Gewissen wirft ihn um, sondern die Niederlage. Später, als Mitglied des Künstlerclubs »Tunnel über der Spree« im Potsdamer Exil, wird er den Beinamen »Tannhäuser« tragen. Theodor Fontane, auch er ein Tunnel-Mitglied, schreibt in seinen Erinnerungen: Als Liebesdichter hatte er einen gewissen Anspruch darauf .
    Das Kind als Venusbergzauber. Storm begehrt das Kind: Weihnachten 1840, einen Monat vor Berthas fünfzehntem Geburtstag, lässt der Dichter dem langsam erwachsen werdenden Mädchen einen »Weihnachtsgruß« überbringen von Dem Spielmann aus der Weiten , der ein Mädchen, groß und schlank, / Durch die Zaubermacht der Saiten / Rückwärts in die Kindheit sang.
    Ist Storm ein Pädophiler? Für einen solchen liegt der besondere Reiz im Noch-nicht der Pubertät. Erst dann, wenn der Erwachsene dauerhaft und ausschließlich auf den Reiz eines Kindes angewiesen ist, um die eigenen erotisch-sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, darf von Pädophilie die Rede sein. Storms kurze Affäre mit der zwei Jahre jüngeren Emma Kühl, die nur heißes Blut war, später die lange Liebesgeschichte mit Constanze, die schon ein Jahr nach dem Bertha-Verlust beginnt, auch das leidenschaftliche außereheliche Zwischenspiel mit Doris Jensen, zeigen, dass Storm seine Liebe auch mit erwachsenen Frauen teilen konnte. Die Liebe zum Kind Bertha ist ein pseudo-pädophiles Kapitel in Storms Lebensbuch. Ein Fall »erotischer Verirrung«, der ihn sein Leben lang verfolgt. Storm steht als Künstler mit seiner absonderlichen erotischen Neigung, die offensichtlich ist und in Biographie und Werk abzulesen, nicht allein. Von Novalis und Sophie von Kühn war schon die Rede. E.T.A. Hoffmann, verheiratet in Bamberg, der sich mit fünfunddreißig in seine zwölfjährige Gesangschülerin Julia Mark verliebt, notiert in sein Tagebuch ähnlich verzweifelt wie Storm in seinem Brief an Mommsen: Diese romantische Stimmung greift immer mehr um sich und ich fürchte es wird Unheil daraus entstehen . In die Reihe dieser ungleichen Paare gehören auch Lewis Carroll und seine Kindmuse Alice Liddell, die als »Alice im Wunderland« weltberühmt wurde.
    Auch Lewis Carroll ist, wie Theodor Storm und Hans Christian Andersen, ein Kindheitsbeschwörer, ein Verschworener des Kindes. Das aus der Kindheit herauswachsende und zur Frau reifende Mädchen empfand er als bedrohlich. Stand das Kind von einst als erwachsene Frau vor ihm, dann war für ihn jeder Reiz verloren. Vom Willenszauber eines Spielmannes, wie Storm ihn in seinem »Weihnachtsgruß« wirken lässt, hätte er liebend gern wirklichen Gebrauch gemacht. Und als literarisches Mittel, eine andere Alice in ein anderes Wunderland zu zaubern, wäre dieser Zauber ein gutes Mittel gewesen. Lewis Carroll war sein Leben lang Junggeselle; sein Leben lang blieb er, anders als Storm, fixiert auf Kindfrauen. Noch im Alter lud er sie ein, mit ihm in getrennten Hotelzimmern Ferien zu verbringen. Von wunderbaren Flitterwochen sprach er dann. Ist Lewis Carroll etwa zu weit gegangen? Nirgends in Dodgsons Korrespondenz und Tagebüchern finden sich Hinweise, dass der ehrwürdige Mathematiklehrer seinen Freundinnen je zu nahe getreten wäre.
    Von einem in dieser Reihe muss unbedingt noch die Rede sein: Thomas Mann. Er, der in seinem Essay von 1930 von Storms Lyrik als einem Griff an die Kehle spricht und den zwei Generationen älteren norddeutschen Kollegen charakterisiert mit: Er ist ein Meister, er bleibt , äußerte sich auch zu Storms Bertha-Begegnung: Diese Kinderliebe erscheint jedenfalls nicht ganz korrekt. Junge Leute pflegen sich eher in reife Frauen als in Zehnjährige zu verlieben , und weiter: korrekt gerade ist eigentlich nichts bei Storm . Dieser Kommentar Thomas Manns erstaunt deswegen, weil seine eigene erotische Orientierung mit genau demselben Recht als nicht ganz korrekt bezeichnet werden

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