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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Missfeldt
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kann. Er selbst verliebte sich als verheirateter Mittdreißiger und Vater von vier Kindern in den elfjährigen Knaben Wladyslaw von Moes, der in der Novelle »Der Tod in Venedig« zu der göttlichen Gestalt des jungen Tadzio wird. Das »Inkorrekte« verbindet also die beiden großen norddeutschen Dichter, die sich andererseits beide als zeugungskräftige Familienoberhäupter erwiesen: Thomas Mann war Vater von sechs, Theodor Storm von acht Kindern.
    Ist »erotische Verirrung« typisches Künstlerschicksal? Jeden kann sie ereilen. Mit »inkorrekt« lässt sie sich nicht gut fassen. Die von sexueller Energie gesteuerte Phantasie bereichert und verzaubert; sie ist eine einzigartige, lebensbejahende menschliche Erfahrung, wenn sie sich nicht unzumutbar verirrt, hin zum Übergriff auf Unterlegene, hin zur Straftat. Für den Fall »Jedermann« ist die Aktenlage aus naheliegenden Gründen nicht so genau untersucht und umfangreich geordnet wie für den Künstler; vieles bleibt vernünftiges Geheimnis. Schicksal des Künstlers mag nicht so sehr die »erotische Verirrung« sein, sondern deren Niederschlag in seinem Werk und, insbesondere für den schreibenden Künstler, in seinen biographischen Zeugnissen.
    Erzählt also Storms »erotische Verirrung« mehr über die Eigenschaften des Mannes als über den Mann Theodor Storm? Der konnte mit seiner Phantasie und Einbildungskraft, dank seinem Gestaltungswillen die brisante Zone des Übergriffs entmaterialisieren; er konnte ihr die Macht des rein Spirituellen verleihen und damit sein Kunstwerk schaffen. Hier liegt der stark sprudelnde Quellgrund dieses norddeutschen Dichters.

Kinderliebespaare
    Immer wieder taucht in Storms Novellen das Kinder-Liebespaar auf: Marx und Annelene (»Auf dem Staatshof«, 1858); Alfred und Jenni (»Von Jenseit des Meeres« , 1863); Harre und Agnes (»In St. Jürgen« , 1867); Hinrich und Margreth (»Draußen im Heidedorf«, 1872); Paul und Lisei (»Pole Poppenspäler«, 1874); Johannes und Katharina (»Aquis Submersus« , 1876); Josias und Renate (»Renate« , 1878); Detlev und Heilwig; (»Eekenhof«, 1879); Junker Hinrich und Bärbe (»Zur Chronik von Grieshuus«, 1884); Franz und Maike in Storms letzter, unvollendeter Novelle »Die Armesünder-Glocke« (1888).
    Ein Liebespaar-Beispiel soll hier noch näher betrachtet werden.
    Die erste erfolgreiche, zu Storms Lebzeiten dreißigfach aufgelegte Novelle »Immensee« (1849) ist auch sein künstlerischer Durchbruch in der deutschen literarischen Welt. Eine Perle deutscher Poesie hat er sie selber genannt. In ihr finden wir die Erinnerung an diese erste Liebe [Bertha] niedergelegt , schreibt Tochter Gertrud. Mehr verrät die Tochter nicht. Das Paar Reinhard (germanisch: Im Rate kühn) und Elisabeth (hebräisch: Gott hat es geschworen) kennen sich von klein auf. Sie ist fünf Jahre alt, er zehn, damit beginnt ihre Geschichte. Reinhard ist ein begabter Geschichtenerzähler. So wie Storm Bertha erzählte, so erzählt auch Reinhard seiner Elisabeth. Reinhard erzählt von Löwen und von Indien. Da wolle er später mal hin. Du musst auch mit , fordert er von Elisabeth. Ja, sie wolle mitkommen, aber nur dann, wenn die beiden Mütter mitkämen. Nein, die sind dann zu alt, die können nicht mit , meint Reinhard.
    Das verweist auf das Märchen von Hans Bär, dessen alte Bären-Pflegemutter deswegen nicht mit aufs Schloss kommt, weil sie »rechtzeitig« stirbt. Und man erinnert sich auch an Berthas Pflegemutter Therese Rowohl, von der man annehmen darf, dass sie einen starken Einfluss auf Berthas Verhalten hatte. Dass Immensee-Reinhard ohne die Mütter auf große Fahrt gehen möchte, ist verständlich.
    Reinhard und Elisabeth unternehmen sieben Jahre später einen Waldspaziergang; er ist schon ein junger Mann, sie noch ein Kind. Sie suchen Erdbeeren, sie müssen Dickicht und Angst überwinden. Sie kämpfen sich vor durch dichtes Gestrüpp , nur mühsam kommen sie voran, fast verlieren sie sich. Ihr feines Köpfchen schwamm nur kaum über den Spitzen der Farrenkräuter. Dann erreichen sie aber doch einen Platz, einsam und paradiesisch schön. Reinhard strich ihr die feuchten Haare aus dem erhitzten Gesichtchen. Storm liebt die Verkleinerungsform bei seinen weiblichen Kinderfiguren über alles. Ähnlich wie er sich bei einem Spaziergang im Düsternbrooker Gehölz in ein von Geißblatt umranktes, idyllisch verborgenes Haus hineinphantasierte und dabei die schöne schlanke Jungfrau , also Bertha, im Auge hat, so ist auch

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