Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
persönliche Ehre. An der Überwindung der ersten großen Niederlage, der weitere kleine und große folgen, arbeitet er lebenslang in seiner Dichter- und Richterwelt, diesen zwei Welten in einer: Die poetisch-unwirkliche und die prosaisch-wirkliche, beide sind sein Zuhause.
Storm ist nur ungern von Kiel geschieden, er vermisst das leichtsinnige Kieler Straßengewimmel. Und es muss ein überstürzter Aufbruch gewesen sein. Er vermisst seinen Koffer; den hat er vergessen. Er hat sich nicht von Theodor Mommsen verabschiedet, nicht, weil er das auch noch vergessen hätte, sondern: ich hatte die Courage nicht, ich war so empörend weich gestimmt, ich würde geflennt haben wie ein Kind, schreibt er aus Eckernförde an Mommsen. Der Freund hat nicht nur einen brillanten Kopf mit Witz und originellen Ideen, sondern behandelt Storm auch immer ein wenig von oben herab. Er will sich um den Koffer und weitere Hinterlassenschaften kümmern; Schulden sind bei Gläubigern zu begleichen, Geld ist von Schuldnern einzutreiben, und die Wäscherin muss noch bezahlt werden. Mommsen berichtet auch von Mine und Gretchen, den Töchtern ihres gemeinsamen Vermieters Bäckermeister Andersen in der Flämischen Straße; die beiden wollen an Storm schreiben, an den jungen Mann aus Husum, den Mommsen schätzt als Fachmann der Seele und Kenner von Mädchenhänden und Herzen.
Der Empfang des ältesten Sohnes in Husum ist herzlich und voller Wiedersehensfreude. Es ist Abend, Lichter brennen, die Geschwister fallen über ihn her. Lauter als alle anderen werden der neunjährige Aemil und die dreizehnjährige Cäcilie geschrien haben. Helene ist schon eine junge Dame von zweiundzwanzig, und Johannes und Otto, die anderen Brüder, sind achtzehn und sechzehn Jahre alt.
Storm wohnt vorerst bei Vater, Mutter und Geschwistern. Er bezieht die hübscheste Stube im ganzen Hause, schreibt er weiter an Mommsen. Es geht auf das Jahresende zu, da werden Feste gefeiert und Bälle gegeben. Storms Bedürfnis, vorzuschlagen und zu raten, Dinge in die Hand zu nehmen und zu organisieren, kommt einer Festlichkeit zugute, die er zusammen mit dem Amtmann und Schlossbewohner Hans Ernst Godsche von Krogh (1778–1852) vorbereitet. Der Mann ist umgänglich und großzügig, lässt Storm machen und das Fest zum großen Erfolg führen. Sicher haben auch die drei begabten Krogh-Töchter an diesem Erfolg ihren Anteil gehabt. Übrigens hab ich in Kiel keinen so hübschen und zierlichen Ball erlebt, lässt er Mommsen wissen. Wie das Feiern und Geselligkeit gehören auch Dichten und Denken zu Storms neuem Husumer Leben. Die Begeisterung für Mörike und seinen »Maler Nolten« will er gern mit der Lesegesellschaft »Harmonie« teilen und schlägt vor , den Roman anzuschaffen . Der Vorschlag wird zwar befolgt, erntet jedoch schon bald ein mitleidiges Kopfschütteln. Besser ergeht es ihm mit dem Selber-Dichten: Er verfasst das Drehbuch für eine Pantomime, die im Schloss aufgeführt werden soll. Storm betätigt sich wie in alten Husumer und neueren Berliner Zeiten als Darsteller, schlüpft in die Rolle des Harlekin und findet Gefallen an seiner siebzehnjährigen Partnerin: naiv, capriciös, lächelnd . Wie schon in Kiel singt er und spielt Klavier, nicht nur zur eigenen Stimme, sondern auch zum Tanz. Den Töchtern des Senators Jensen, Friederike und Dorothea, genannt Rike und Doris, gibt er Gesangstunden. Storm geht es gut. Den Damen gegenüber war er ein wenig tyrannisch , schreibt Gertrud Storm. Mit der Gesundheit steht es nicht immer gut. Die Nase plagt ihn, mal ist sie rot, mal ist sie blau. Wahrscheinlich ist er anfällig für Erkältungskrankheiten: Hals- und Ohrenschmerzen quälen ihn auch; er klagt über Rheuma und Zahnweh, und er reagiert hypochondrisch.
Die mit den Mommsen-Brüdern in Kiel angefangene Arbeit am gemeinsamen Liederbuch-Projekt setzt Storm brieflich fort, Gedichte gehen hin und her, in der Kieler Gerüchteküche zirkuliert die Kunde, Storm habe sich in eine Altistin verliebt. Nach wie vor ist Mommsen Storms anregender Geist mit dem strengen Blick des Kritikers und Redakteurs. Kurz vor dem guten Ende wird der Ton zwischen Storm und Mommsen angespannt; es geht nicht ohne Missverständnisse und Vorwürfe ab; aber immer wieder fangen sich beide, lassen Vernunft walten, lenken ein und rufen sich gegenseitig Mut zu, wie Storm es tut: Es lebe die Firma Mommsen und W. Storm, und Mommsen antwortet: Ja freilich, es lebe die Firma … Kein Wunder, denn das »Liederbuch
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