Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
ihrem Schmerz: Ich fürchte, Du hast das Haus des Herrn betreten mit anderen Gedanken, als wie dort hingehören, das sollte mir für Dich leid tun.
Mag Storm den Glauben an sein Projekt verloren haben, mag er Unheil auf sich zukommen sehen, er steht vor dem Ende seines Studiums, die Abschlussprüfung muss geschafft werden, der Advokatenberuf rückt in greifbare Nähe, er wird bald auf eigenen Beinen stehen und eine Familie ernähren können. Der Brief mit dem Heiratsantrag ist nicht erhalten; Storm schreibt ihn, als er im September und Oktober 1842 vor dem königlichen Appellationsgericht in Kiel das juristische Staatsexamen absolviert; Mitte Oktober besteht er mit »gut« und »größtenteils gut«.
Da kommt Berthas Zurückweisung: Das Wort zu sprechen, was Du von mir erwartest, ist wahrlich nicht so leicht für mich als Du zu glauben scheinst – und wenn Du es recht erwägen willst, so wirst Du mir recht geben, dass ich noch viel zu jung bin, um mit Ernst einen solchen Gedanken aufzunehmen, wie vielmehr einen Schritt zu tun, an dem mein ganzes Leben hängt. Zu jung? Bertha ist eine fast siebzehnjährige junge Frau! Storms Erwartung, sie zur Frau gewinnen zu können, geht auf das Konto Selbsttäuschung; es gibt von Berthas Seite keine Zeichen, dass sie auch nur einen Funken Liebe für ihn empfunden habe.
Schützenhilfe kommt von der Pflegemutter, deren Brief mit dem von Bertha in einem Kuvert abgeht: Sie werden meiner Versicherung nicht bedürfen, daß Berthas Brief ohne das allergeringste Zutun von meiner Seite geschrieben ist. Da darf man zweifeln. Natürlich und richtig wäre, wenn die Pflegemutter dem Pflegekind, dem sie so innig verbunden ist, in einer so wichtigen Lebensfrage mit Rat und Tat zur Seite stünde. Schon im ersten Brief an Storm schreibt die zwölfjährige Bertha wie eine Erwachsene: Aber wie der Mensch das Traurige sehr leicht vergisst, so waren wir denn auch in unserer neuen Freude sehr vergnügt. Das klingt ganz nach dem höheren Beistand der klugen Therese Rowohl, und nach Widerstand gegen Storm: Sie haben eine schöne Gelegenheit versäumt in ein frommes Kinderherz zu blicken. Was schwingt
in diesen Worten: Vorwurf oder Erleichterung? Berthas unmittelbare Umgebung fühlt mit: Storm sei zu weit gegangen. Dieser Vorwurf mag für die ersten Jahre der Bertha-Bekanntschaft berechtigt sein. Warum aber die Ablehnung in dieser Lage? Bertha ist inzwischen sechzehn Jahre alt, sie ist konfirmiert. Was spricht gegen eine Heirat? Sie weiß: Storm entstammt einem begüterten, angesehenen Elternhaus, er ist eine gute Partie. Nach herkömmlicher Art müsste die Pflegemutter raten: Greif zu; so eine Chance kommt nie wieder! Sie sagt es nicht, das ist sicher, und sie kann sich hinter Berthas Begründung verstecken, indem sie deren alleinige Urheberschaft betont.
Liegt hinter Therese Rowohls Verhalten das ebenso zarte wie feste Band einer Frauenliebe? Wenn auch keine Beweise vorliegen, so gibt es doch Hinweise für so eine Vermutung: Bertha lehnt später den Heiratsantrag eines jungen Arztes ab; auch der wäre eine gute Partie gewesen. Sie bleibt bei ihrer Therese Rowohl, die 1879 hochbetagt mit siebenundneunzig Jahren stirbt. Danach wohnt Bertha bis ans Lebensende zusammen mit einer jüngeren Freundin, Lisette Goß. Auf ihren Wunsch vernichtet Lisette Storms Heiratsantrag und den des jungen Arztes. Sie lässt Bertha auf dem Ohlsdorfer Friedhof beerdigen, und auf den Grabstein lässt sie in goldener Schrift schreiben: Geliebt und unvergessen.
Nachdem Storm nun durch schriftlichen Bescheid endgültig weiß, dass Bertha für ihn unerreichbar ist, möchte Therese Rowohl den freundschaftlichen Kontakt mit ihm erhalten und bittet um seinen Besuch. Ich kann nicht, und käme der ganze Himmel zu mir, ich müsste mich abwenden. Leben Sie wohl! Gott segne Sie, und lasse Bertha einmal von einer Liebe umfangen werden, wie ich sie vergebens zu ihr im Herzen trug . Der junge Mann, der gerade das Studium abgeschlossen hat und voller Selbstvertrauen in die Zukunft blicken könnte, ist schwer getroffen und am Boden zerstört. Sechs Projekt-Jahre umsonst? Die Liebe zu Bertha hat ihn Verse echter Leidenschaft und unverstellter persönlicher Empfindung schreiben lassen; am Ende dieser seltsamen Liebes- und Leidensgeschichte steht Storm mit seiner frühen Meisterschaft als Dichter da. Ein halbes Jahr später, als er wieder in Husum wohnt und sich »Woldsen Storm, Advocat« nennt, ist ihm immer noch nicht zu helfen. Die Liebe
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