Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
seine Schulden vor dem Vater geheim. Von einem Freund der Familie wird er später erfahren, dass Vater Johann Casimir die Verpflichtungen seines Sohnes sehr wohl kannte und ihn nicht im Stich lassen wollte. Storms Großmutter Magdalene Woldsen wird das Geld vorstrecken und den Enkel aus der Patsche holen. Man muss annehmen, dass der Vater, wie so manches Mal in Storms Leben, hinter den Kulissen Regie führt.
Storm gründet den »Singverein«
Im April 1843, mitten im künstlerischen und beruflichen Aufbruch, lädt Storm sich weitere Arbeit und Verantwortung auf die Schultern und gründet den »Singverein«. Dass Vater Johann Casimir dazu die Nase rümpft und an brotlose Kunst denkt, kann man sich denken. Mutter Lucie, die selber gern singt und deren Musikalität Sohn Theodor geerbt hat, wird die Sache mit Beifall aufgenommen haben, sie wird aktives Mitglied. Schwester Helene spielt Klavier; sie ist von Anfang an dabei und dem Dirigenten und Sänger Storm eine unersetzliche Stütze als pianistische Begleiterin.
Warum gründet Storm überhaupt einen Chor? Der private Zirkel, in dem er sich der eigenen Musikalität vergewissert und sich daran erfreut, scheint ihm nicht zu genügen. Seine musikalische Begabung, insbesondere seine immer wieder gelobte Tenorstimme, sucht ein angemessenes öffentliches Zuhause. Der Singverein bietet Storm, der gern im Mittelpunkt steht und gern Takt und Ton vorgibt, die Möglichkeit, seine Musikalität auszuleben. Und er kann dabei seinen pädagogischen Eifer – Übereifer nicht ausgeschlossen – an den Mann und an die Frau bringen. Das aber ist es nicht allein. Es hat mit der Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zu tun.
Die »Beroliniana«, seine früheste Prosa-Arbeit, die in Musik und um die Musik herum lebt, atmen die Berliner Luft, in der sich der kulturelle Vorrat des alten Musikzentrums Berlin bewahrt hatte und seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die bürgerliche Musikkultur gedieh. Den Weg aus der Bindung an Kirche und Staat in die Öffentlichkeit ging die Musik auch mit Hilfe der Frauenstimme; und die Frau betrat zum ersten Mal den öffentlichen Raum, indem sie sich unter den Schutz der Kunstschönheit stellte. Die Emanzipationsgeschichte der Frau ist ohne die Kunst kaum vorstellbar. In der Berliner »Singakademie« sangen schon im September 1791 erstmals in Deutschland Frauen und Männer gemeinsam anlässlich eines Kirchenkonzerts in der Berliner Marienkirche. Goethes Briefpartner und Musikberater, Carl Friedrich Zelter (1758–1832), war eine der treibenden Kräfte. Über dreihundert Sänger gehörten dem Chor an. Die Aufführung der »Matthäuspassion« am 11. März 1829, geleitet vom zwanzigjährigen Felix Mendelssohn, war glanzvoller Höhepunkt. Zu den neu entdeckten Bach-Klängen traten nationale Klänge. Webers »Freischütz« war 1821 mit überwältigendem Erfolg in Berlin uraufgeführt worden, ging auf große Fahrt durch Deutschland und lieferte Storm schon zu Schülerzeiten Musikstoff für die Gesangspraxis und Novellenstoff für die Schreibpraxis.
Im April 1843 gründet Storm also seinen »Singverein«, Husums ersten gemischten Chor für Frauen- und Männerstimmen; zehn Damen und acht Herren finden am Anfang zusammen. Warum ein gemischter Chor? Warum nicht eine »Liedertafel«, ein Männergesangverein? Schießen doch die Liedertafeln gerade jetzt überall in Deutschland wie Pilze aus dem Boden.
Zelter hatte 1809 die erste Liedertafel in Berlin ins Leben gerufen. Er hielt seine Liedertafel – man traf sich, um zu singen und zu tafeln – überschaubar klein und eher im Hintergrund. In der Schweiz waren solche Liedertafeln schon vorher gegründet worden. Sie breiteten sich über Süddeutschland nach Norden aus und erreichten schließlich auch die Herzogtümer Schleswig und Holstein. Die von Schleswig ist 1839 die erste, die älteste Liedertafel in Nordfriesland, also in Storms engerer Heimat, ist die von Bredstedt.
Die Liedertafeln sind von Anfang an reine Männersache. Männergesang steht für volkstümlich und national, vaterländisch und soldatisch. Männergesang, das sei »Eichenwald«, er ist also aus hartem Holz geschnitzt und kriegstauglich, gemischter Gesang dagegen sei »Ziergärtnerei«, Verschwendung ohne Sinn und Zweck, also Kunst für die Katz, so scheidet die Zeitschrift »Die Sängerhalle« von 1904 den einen Gesang vom andern.
Dass Storm mitten in der Gründungsphase der Liedertafeln einen gemischten Chor ins Leben ruft, ist aus
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