Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Männerquartett zu hören, schreibt er Constanze. Storms Mutter und Schwester, wahrscheinlich auch Vater Storm erleben dort einen Höhepunkt der schleswig-holsteinischen Unabhängigkeitsbewegung. Man fürchtet, das Herzogtum könnte zu einer dänischen Provinz entwertet werden. Man fürchtet um den Bestand der deutschen Sprache. Man wehrt sich gegen die »eiderdänische« Propaganda, die auf die dänische Karte setzt. Politischer Sprengstoff und die Sorge, die geliebte alte Ordnung könnte zerstört werden, liegen in der Luft. Nicht zuletzt deswegen reisen zweiunddreißig Liedertafeln in eichenlaubgeschmückten Wagen an. Dass zwölf- bis vierzehntausend Sänger und Schlachtenbummler, Zuhörer und Zuschauer teilnehmen, liegt auch an Schleswigs verkehrsgünstiger Lage.
Schleswig-Holsteins Fahne, die blauweißrote Trikolore des Nordens, flattert überall. Am Festtag erklingt zum Abschluss des Vormittags »Was ist des Deutschen Vaterland«. Das Publikum will die letzte Strophe noch einmal hören: Das ganze Deutschland soll es sein. Der Dirigent stößt im Eifer des Sing-Gefechts mit dem Taktstock gegen das Notenpult. Das Pult fällt um und zerbricht. Nachmittags singen die Schleswiger Liedertafler unter Leitung des zweiundsiebzigjährigen Komponisten und Musikdirektors des St. Johannis-Klosters Carl Gottlieb Bellmann (1772–1861) zum ersten Mal das Schleswig-Holstein-Lied. Das »Husumer Wochenblatt« meldet am 4. August 1844: Aller kleinlicher Groll verschwindet vor dem großen Interesse, das alle Unterrichteten und vaterländisch Gesinnten beseelt und das sich am sprechendsten kund gab in dem, unter Umarmungen und Hurrahruf immer und immer wiederholten Liede: »Schleswig-Holstein meerumschlungen, / Deutscher Sitte hohe Wacht! / Wahre treu, was schwer errungen, / Bis ein schön’rer Morgen tagt! / Schleswig-Holstein stammverwandt, / Wanke nicht mein Vaterland!« Mit diesen Durchhalte-Worten und der antreibenden Musik, die mit dem zündenden Fanfarenstoß der französischen »Marseillaise« beginnt, tritt das Lied ein Jahr später in Würzburg seinen Siegeszug durch Deutschland an. Man feiert das erste deutsche Sängerfest. 1508 Sänger aus 94 deutschen Städten folgen der Einladung. In Würzburg erregt das nationale Bekenntnis der Schleswig-Holsteiner die größte Begeisterung. Es ist nicht nur die Musik, sondern vielmehr die Hingabe an die politische Idee eines einigen Schleswig-Holsteins und seiner Unabhängigkeit von Dänemark, die sich in dem Lied ausdrückt, die Zuhörer mitreißt und den Gedanken an ein einiges Deutschland entzündet.
Alle nationale Begeisterung ohne Storm? Sein Vater, der an der Ständeversammlung teilnahm und sicher nebenbei auch das Sängerfest besuchte, rechnete mit seinem Interesse. Schwester Helene und Mutter Lucie hätten ihren Theodor sicher gern dabeigehabt. Storm aber bleibt zu Hause. Er schreibt in der Woche des Schleswiger Sängerfestes einen langen Brief an seine Verlobte. Montag, der 22. Juli, beginnt morgens um halb sieben so: Guten Morgen, mein Herzensmädchen, ich küsse Deinen süßen Mund – . Anschließend fährt Storm nach Friedrichstadt und weiter nach Eiderstedt theils in Geschäften, theils zu Pferdemarkt . Eiderstedt ist weit weg von Husum, mit Pferd und Wagen dauert die Reise hin und zurück von sieben Uhr morgens bis elf Uhr abends.
Storm genießt den Sommer, Gartenduft und Bienensummen. Sein Leben ist erfüllt von der Sehnsucht nach seiner bei ihren Eltern in Segeberg lebenden Verlobten. Er kokettiert in gehobener Stimmung, daß es mir gar nicht unangenehm ist, liebenswürdigen Mädchen zu gefallen. Er genießt die prächtige Nacht vom 23. auf den 24. Juli mit Freund Harries und sieht mit ihm die Sterne schießen und die Fledermäuse das Fenster umschwirren. Auch Eichendorff-Verse schwirren ihm durch den Kopf.
Am Mittwochnachmittag, zum Zeitpunkt der Uraufführung des Schleswig-Holstein-Liedes, schreibt er an Constanze: Wie süß ist doch so ein zärtlich Briefchen von der Liebsten . Die Freude über das schöne Wetter dieses Tages beschreibt er so: ein rechtes Liebeswetter. Er lässt die Vorfreude über den geplanten Besuch in Segeberg im August durchblicken. Und wie Gottfried Benn in seinem »Brief nach Meran« schreibt: Blüht nicht zu früh, ach, blüht erst wenn ich komme , heißt es bei Storm schon hundert Jahre früher
in seinem Brief nach Segeberg: Laß die Blumen nur nicht verwelcken eh’
ich komme. Storm ist von Liebesgedanken erfüllt, politische
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