Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
leisten läßt; die Ausführung aller Nummern ließ wenig zu wünschen übrig.
Ein halbes Jahr später, am 27. März 1844, traut Storm sich mit seinem Chor an Mozarts Requiem; außerdem soll Orgelmusik erklingen. Die Aufführung, wieder zum Besten der Warteschule , ist geplant in der Husumer Marienkirche, jedoch machen die Kirchenmänner einen Strich durch Storms Rechnung und sagen ab. Theodor geriet förmlich in râge, als er es las, schreibt Constanze, Storms Verlobte seit Januar, an ihre Mutter nach Segeberg. In der Beilage des »Husumer Wochenblatts« vom 24. März 1844 wendet sich Storm darauf in einer Annonce an die Öffentlichkeit, um sich gegen das Publikum zu entschuldigen . Sein Zeitungsartikel gilt als verloren. Er schreibt, so zitieren ihn die Kirchenmänner eine Woche später im selben Blatt, über die Hindernisse, die es dem Singverein unmöglich machen, in der Hauptkirche ein Konzert aufzuführen. Die Kirchenmänner verkünden am Ende: Ist doch ein Concert kein Gottesdienst und ein Gottesdienst kein Concert. Storm und sein Singverein müssen klein beigeben, die Veranstaltung findet statt in der »Klosterkirche« des St. Jürgen-Stiftes.
Storm hat auf seine Partitur die Namen der Mitwirkenden geschrieben. Er selber steht im Tenor als H. Th. W. Storm (Solist) verzeichnet, seine Mutter als Md. Storm und C. Esmarch , Storms Constanze, beide im Alt. »Madame Storm« kann also Noten lesen und mitwirken in einer Komposition, die bei den Sängern ein gehöriges Maß an musikalisch-theoretischer Kenntnis und Gesangspraxis voraussetzt. Sopran-Solistin ist die älteste Tochter des Amtmannes Krogh: Auguste von Krogh (1811–1885), die beste Solistin in Storms Singverein, schreibt Gertrud Storm.
Im Juni 1844, ein Jahr nach Gründung des Singvereins, besucht Storm das erste Volks- und Sängerfest in Bredstedt. Der eigentliche Grund für das Fest ist nicht das gemeinsame Singen und Essen und Feiern, sondern liegt in der Befürchtung, die freiheitsliebenden, auf Unabhängigkeit und Eigensinn bedachten Friesen könnten sich der Schleswig-Holstein-Sache, also der deutschen, verweigern. Die Sorge erweist sich als unbegründet, denn besonders das erste Volksfest von 1844, das sechstausend Menschen besuchen, ist ein Erfolg. Schönes Sommerwetter sorgt für gute Stimmung, und vom hoch auf dem Geestrand gelegenen Festplatz nahe der Kirche bietet sich ein weiter Blick in die Marsch. Fern von allem Particularismus hätten sich die Friesen ihren Brüdern, den Schleswig-Holsteinern , angeschlossen, schreibt das »Husumer Wochenblatt«.
Was treibt Theodor Storm in das fünfzehn Kilometer nördlich von Husum gelegene Provinznest? Er gehört als junger Anwalt dem Festausschuss an; mit Kollege Beccau aus Husum will er Kopien von Liedertexten unter das singende Volk bringen und ein wenig Geld damit verdienen. Er macht ein Minusgeschäft. Auch seine politische Begeisterung steht eher auf Minus. An Constanze berichtet er von dem gefühlvollen Dänenfresser Johannes Todsen aus Tondern, der an diesem Tag fünfzig Reden hielt, von denen keine einzige einen Sinn hatte, und der nach Beendigung der fünfzigsten meinem Kollegen Lorenzen um den Hals fiel und ihm mit Freudenthränen in den Augen zuflüsterte »Es gelingt!«. Man sieht Storm klar und deutlich, wie er auf dem Volksfest als Teilnehmer beobachtet und als Beobachter teilnimmt. Sein spöttischer Ton gegenüber dem Politischen fällt auf, sein Humor und seine Ironie offenbaren die Distanz, mit der er sich innerlich vom Bredstedter Geschehen fernhält.
Etwas anderes stürzt ihn aber in schwere Bedrängnis, und Ironie und Humor gehen ihm dabei völlig aus. Seiner Braut schreibt er nämlich: Ich wollte – beichten über alte Dinge, er muss sich entlasten. Storm wäre um ein Haar seiner Jugendliebe und ersten Verlobten Emma Kühl begegnet, hätte er nicht Reißaus genommen. Emma hat zufällig dasselbe Quartier wie er in Bredstedt. Als er darüber von seinem Bruder Otto unterrichtet wird, quartierte ich mich gleich um. Noch immer verfolgen ihn Scham und schlechtes Gewissen: Größte Schuld meines Lebens. Er hatte Emma einfach sitzen lassen, ohne ein erklärendes Wort. Gut machen läßt sich so etwas nicht; die Reue muß ewig sein .
Das Schleswiger Sängerfest am 24. Juli 1844 wird Storm nicht besuchen, obwohl sein Vater ihm eine Eintrittskarte geschenkt hat. Ich bin nicht wohl genug, um mit der Musick einen solchen Tumult einzunehmen; auch ist es zuviel, den ganzen Tag nichts als
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