Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
drei Jahre später von einem Gefühl zum Ersticken, ohnmächtig und stumm dies gegen die Bevölkerung angewandte Demoralisierungssystem mit ansehen zu müssen . An diesem Demoralisierungssystem haben von Anfang an die deutschen Großmächte Preußen und Österreich mitgewirkt. Hier und jetzt, nicht erst später im preußischen Exil, entwickelt Storm seine tiefe Abneigung gegen Preußen, das im Vertrag zu Olmütz, zusammen mit Österreich, im November 1850 die Unterwerfung verlangt.
Ein grünes Blatt
In dieser aufgeregten Zeit des Jahres 1850 schreibt Storm die Novelle »Ein grünes Blatt«. Während »Immensee« das Sich-Verirren eines Paares mit dem männlichen Partner als Führendem schildert, ist es in der Novelle »Ein grünes Blatt« umgekehrt. Um die Binnen-Erzählung legt Storm einen doppelten Rahmen, der Zugang zur eigentlichen Geschichte führt über mehrere Stationen: Der Ich-Erzähler (1. Rahmen), dessen Name unbekannt bleibt, liest die Niederschrift seines Freundes Gabriel (2. Rahmen), der seine Geschichte in der dritten Person erzählt, vielleicht um bei gewissenhafter Schilderung das Ich nicht zu verletzen, meint der Erzähler mit dem unbekannten Namen; man darf vermuten: Theodor.
Wieder einmal wird der Leser entführt in einen heißen Sommertag. Gabriel, Soldat wie der unbekannte Erzähler, marschiert nicht wie ein Soldat, sondert wandert über die Heide, schlendert wie Eichendorffs Taugenichts über sie hin; er hat Heideduft in der Nase und gerät vom Denken ins Dösen. Er nimmt die Büchse von der Schulter, er legt sich zu einem Nickerchen ins Heidekraut, bis seine Gedanken in der heißen zitternden Luft zergingen . Da tauscht er Blicke mit einer Schlange, und ihm erscheint die Gestalt eines Mädchens.
Der Rahmen erzählt von einem Feldlager, da sind Soldaten, da werden Waffen geputzt. Aber die gewichtige Binnengeschichte, die der unbekannte Ich-Erzähler studiert und an der er den Novellenleser als stillen Studiosus teilnehmen lässt, ist alles andere als eine Kriegsgeschichte. Mit dem Auftritt der Schlange, die sich als das junge Mädchen Regine entpuppt, beginnt ein Geschehen, das wie alle anderen, die Storm aus Mittagshitze und Einsamkeit hervorquellen lässt, zum Typus des »High Noon« zählt und als Liebesgeschichte verstanden werden will. Der Umschlag des Buches, der Apparat mit Rahmen, Inventar und Kriegsvokabeln dienen der Absicherung, also dem Tarnen und Täuschen: Die Geschichte möge nicht zu eindeutig werden. Naheliegend für Storm ist darum der Griff ins aktuelle Tages- und Kriegsgeschehen, das ihn und seine Landsleute gerade bewegt und irritiert.
»Ein grünes Blatt« mag in der literarischen Bedeutung nicht allzu hoch stehen, aber was die Psyche des Autors betrifft, ist dieser Text aufschlussreich. Wie in allen anderen Novellen, auch in den Gedichten, hat Storm stets sein poetisches Material der eigenen Biographie entnommen. Das ist für einen Dichter normal, aber wo finden wir einen, der das auf immer und ewig so nachhaltig und blutvoll, so trunken und entrückt praktiziert wie Storm? Er hat nur ein einziges Vorbild: sich selber. Dafür muss er den Vorwurf einstecken, er habe Geschichten geschrieben, die nur ein einziges Motiv behandeln: das der gescheiterten Liebe und des gescheiterten Lebens.
Auch »Ein grünes Blatt« erzählt mit den Figuren Gabriel und Regine die Geschichte einer gescheiterten Liebe. Es ist die Geschichte von Storms und Doris Jensens großer Liebe; sie hatte damals keine Chance. Zu viel stand dagegen: Storms junge Ehe mit Constanze, die Husumer und Segeberger Familien, die Freunde, die Bekannten und Unbekannten, der Anstand und die gesellschaftliche Moral. Und Storm selber stand dagegen mit seiner Liebeswahn-Zumutung und Rücksichtslosigkeit, mit seiner Selbstherrlichkeit. Ihn und Doris Jensen verband etwas, das beide alles vergessen ließ und ihnen Sinn und Verstand raubte. Geheim halten ließ sich ihre Liebe nicht. Schande und Scham für die Storms und Jensens in Husum. Achselzucken und Fragezeichen in den Gesichtern der Freunde. Gefundenes Fressen für Klatsch und Tratsch in der Kleinstadt. Wie das Liebespaar seine Liebe praktizieren und erleben konnte, davon erzählt diese Novelle.
Regine und Gabriel sind gleich nach dem märchenhaften Auftritt der Schlange deutlich erkennbar als Liebespaar. Er von Anfang an mehr Träumer als Soldat, sie eine energische, zupackende junge Frau. Autor Storm hat diese Figur allen familiären Verpflichtungen enthoben:
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