Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Den Vater hat er sterben lassen und die Mutter hat er neu verheiratet. Nun lebt Regine beim Großvater, der zufrieden Haus und Hof in der einsamen Heide regiert. Regine hilft bei Ackerbau, Vieh- und Bienenzucht und genießt dafür seinen Schutz. Auch Gabriel scheint frei von familiärer Bindung. Von seiner lieb Mutter ist die Rede wie von einer fernen Erinnerung.
Dorthin führt sie der Weg, und Gabriel singt ein Lied, das kein Soldat singen würde, denn es zieht ihn nicht in den Einsatz, sondern Mir aber in Herzensgrunde / Erklingt zu dieser Stunde / Ein deutsches Wiegenlied. Gabriel möchte die Welt vergessen und in den Schlaf gesungen werden. » Ich bin irre gegangen,« sagte er »in der eigenen Heimat« . »Irre«, darin steckt »Irrtum«, »verrückt«, »verführt«, auch »Zorn« und »Eifersucht« schwingen mit; auch »umherschweifen«, und das darf ein Soldat nun gerade nicht; der muss entsprechend dem Marschbefehl zielgerichtet marschieren. Gabriel aber ist in einer ihm sehr vertrauten Umgebung vom rechten Weg abgekommen und zwar nicht im Irrenhaus, wohl aber gleich nebenan im Irrgarten der Liebe gelandet. Hier will er wieder raus: Du musst mir wieder auf den Weg helfen . Regine, die sich als Genius der Heimath in diesem idyllischen Irrgarten auskennt, soll ihn zurück auf den Pfad der Tugend bringen.
Mit umständlicher Genauigkeit beschreibt nun Storm das menschenleere Kätnerhaus, den Garten und Immenhof, wo schließlich ein Greis sitzt, Regines Großvater, der schon undenkbar alt ist. Er denkt nach über Natur und Leben, er hat einen philosophischen Kopf, seine kleine Wirtschaft hat er fest im Griff, er versteht sein Imkerhandwerk. Wenn hier alles seinen sicheren Gang gehen soll, dann muss er morgen wieder auf den Posten . Nicht nur das schöne Lebensabend-Reich, sondern Auge und Ohr des alten Mannes sind gefragt.
Hier sind Einsamkeit und Schutz vor der aufgeregten Zeit, und doch fühlt Gabriel sich bedroht und verfolgt. Bevor Regine ihn auf den Weg zu seinem Einsatzort bringt, sitzen die beiden beim Erbsenpflücken im Garten. Während sie mit den Händen bei der Arbeit sind, empfinden sie große Nähe, sie ließen nicht ab, sie pflückten weiter, als sei es ihnen damit angetan . Möge alles nur ewig dauern, so empfinden sie wohl. Aus der Ferne rollt Kanonendonner herüber. Etwa der Kanonendonner von Friedrichstadt, wo Gabriel mit der Eiderfähre übersetzen könnte? Das Haus steht recht in Gottes Hand , sagt der Alte zur Beruhigung. Er hält seine schützende Hand über Regine und Gabriel, und mit Storms drei Gedankenstrichen weiß er mehr als seine beiden Schützlinge: Wir sehen uns doch wieder, junger Herr; Sie kommen schon zurück – – – morgen oder übermorgen.
Regine geht im Mondlicht voran, bald erreichen sie den Wald, vielleicht das Immenstedter Gehege, den einzigen größeren Wald in der Gegend, nördlich von Husum, also in Richtung Feind, auf einem Geestflecken gelegen. Storm hat den Fluss, den Gabriel erreichen will, nördlich des Geheges gelegt. Hier fließt tatsächlich einer, die Arlau; aber das ist ein Flüsschen und Fährbetrieb hat es hier nie gegeben. Die Arlau war »Staatsgrenze«, nördlich lagen der königliche Anteil des Herzogtums Schleswig, südlich der herzogliche. In der nassen Jahreszeit trat die Arlau weit über ihre Ufer und vom Geestrücken des Immenstedter Gehölzes sah man hinunter in eine Landschaft, die von einem breiten Strom durchzogen war.
Der Wald von Immenstedt gehört zu den ältesten Gehölzen in Nordfriesland; auf den jährlichen herzoglichen Holzauktionen wurde Holz versteigert, Holzhändler und Tischler, Bauern und Bauunternehmer kauften hier ein. Einer der größten Einkäufer war die Firma Jensen aus Husum, die sich schon zu Zeiten von Johannes Jensen, das war Doris Jensens Großvater, sehr wahrscheinlich hier den Jahresbedarf holte.
Das Gehölz ist in einer Stunde mit Pferd und Wagen von Husum zu erreichen. Storm war mit Brinkmann im Immenstedter Gehege auf Wanderschaft, mit der Familie fuhr er in der Pferdekutsche dorthin, um den letzten Hegereiter von Immenstedt, Anker Erichsen, zu besuchen.
Vielleicht hat Storm sein »Immensee« nach diesem Immenstedt benannt; das wäre naheliegend. Immo, ein Männername germanischen Ursprungs mit der Bedeutung »der Große«, nicht »Imme«, die Biene, hat der Siedlung Immenstedt und dem Bach Imme den Namen gegeben.
Oder dachte Storm beim »Grünen Blatt« etwa an den weiter weg gelegenen Wald von
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