Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Westermühlen, den Wald seiner Kinder- und Jugendjahre, und an die Stadt Rendsburg an der Eider, die Schleswig von Holstein und Dänemark vom Deutschen Reich trennte?
Der Novellenwald bleibt schließlich ein poetisches Erzeugnis, das aber hergestellt ist aus biographischem Material, dort hat es seine Wurzeln, von dort bezieht es seine Energie; es gelangt im Prozess des Verarbeitens und Wachsens zu Freiheit und Unabhängigkeit und steht am Ende da wie ein Baum mit seinen grünen Blättern, wie eine zweite Natur mit ihrer unantastbaren Würde.
Regine und Gabriel müssen auf der Hut sein, wenn sie im Wald den richtigen Weg gehen wollen. Er: ein Gefangener in der Heimat. Sie: mitgefangen, mitgehangen. Regine kennt sich aus, wie ein Luchs passt sie auf. Wohin könnten feindliche Beobachter ihren Blick werfen? Wer ruft wem etwas zu und gibt der Gerüchteküche Futter? Es riecht nach Verrat. Gabriel kann sich auf Regine verlassen. Sie kennt sich nicht nur aus, sie ist auch mutig. Das Mädchen, das waldkundig und unversehens durch die Zweige schlüpfte , ist die Aktivere, die Antreiberin, die Schnellere, während Gabriel wie ein träumender Trottel hinterhertrabt; er will das Arbeiten der Käfer in den Baumrinden hören. Niederhängende Zweige schlugen ihm in’s Gesicht oder zupften ihn an der Büchse . Wie soll der Leser sich das vorstellen: Zweige zupfen an der Büchse?
Zwischen den beiden herrscht nicht nur eitel Sonnenschein; die Umstände verderben die Stimmung: wenn er plötzlich von unsichtbaren Dornen geritzt, einen ungeduldigen Ausruf nicht zu unterdrücken vermochte, hörte er vor sich ihr schadenfrohes Gelächter. Regines Verbündete sind der Wald und seine Tiere; sie scheint sogar auf Du und Du mit einem Reh und mag noch mit ihm spielen. Nichts für Gabriel, der ist außer Atem vom Marschieren, muss erst mal verpusten, lehnt sich an einen Baum, hört Stimmen in der Ferne und solche zum Erschrecken nahe . Wird man ihn entdecken? Wird Regine ihn ans sichere Ziel bringen? Alpträume? Ist Gabriel im Stehen eingeschlafen?
Das glaubt Regine, denn sie weckt ihn, legt dafür ihre Hand auf seine Büchse . Wird ein Soldat am Baum stehend schlafen, und das mit geschultertem Gewehr? Wird man gar die Hand ans Gewehr legen, um den Mann zu wecken? Beides ist unwahrscheinlich. Damit er aufwacht, wird man ihn an die Schulter fassen oder ihn mit dem Finger anticken. Warum Regine ihre Hand an Gabriels Büchse legt? Das erklärt ihr Wesen, zu dem Mut, Leidenschaft und Begehren gehören. Wer die Nebenbedeutungen von »Büchse« mitliest, kommt noch einen Schritt weiter. »Büchse« steht im Falle des Mannes da als überragendes Phallussymbol, und im Falle der Frau deutet »Büchse« auf die Vagina. So ist die Büchse mit ihrem Rohr ein Sonderfall, ein Doppelsymbol. »Büchse« steht auch für lebhaftes, dreistes Mädchen , und das ist gewiss einer von Regines Wesenszügen.
Sie hat ihn ans Ziel gebracht. Dort verabschieden sie sich als das Liebespaar, das nicht gesehen und erkannt werden möchte. Auf ihre Frage Weshalb mußt du in den Krieg? weiß Gabriel keine rechte Antwort. Aus dem Dunkel, wo Regine bleibt, tritt er in die helle Mondnacht, um mit der Fähre überzusetzen. Wo will er hin? In den Krieg? Gabriel, das ist klar geworden, ist kein Soldat, sondern hat sich nur als Soldat getarnt. Wenn er am sicheren Ufer gelandet sein wird, dann kann er Uniform und Gewehr an den Nagel hängen und unter offenem Himmel seinen Geschäften nachgehen. Falls er Familie hat, kann er bei Frau und Kindern sein und bei seiner Mutter.
Niemals schritte Regine hinunter in seine Welt, das hören wir zum Schluss der Novelle aus einem Gedicht, das Gabriel mit Pagina 113 überschrieben hat. Und wenn sie nun doch herunterschritte , fragt der unbekannte Erzähler seinen Kameraden. Dann wollen wir die Büchse laden! Der Wald und seine Schöne sind in Feindeshänden , lautet seine Antwort.
Dieser Schluss hat neben Fontane auch andere Leser nicht überzeugt, ja ratlos gelassen.
Storms Dann wollen wir die Büchse laden ist mehrfach verschleierte Poesie, auch eine rhetorische: Der Mann sagt etwas, meint es aber nicht so,
und die Frau versteht. Der Leser darf dabei auch an die Nebenbedeutung von »Büchse« denken. Der Schluss hinterlässt eine vom Dichter kalkulierte Unschärfe, die etwas verdeckt: Regine ist hier das Opfer, denn wir müssen uns Gabriel denken als denjenigen, der tatsächlich anlegen, zielen, schießen und sein Geliebtestes töten
Weitere Kostenlose Bücher